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Hans Eichel
Interview mit
Sonja Rosettini
und Helmut Plate
(Welt.Kunst.Kassel)

Nach der documenta ist vor der documenta

Hans Eichel im Gespräch mit Sonja Rosettini und Helmut Plate von Welt.Kunst.Kassel

Das Interview ist im Original veröffentlicht auf der Website von Welt.Kunst.Kassel (www.welt-kunst-kassel.de)

Foto: Gabriele Wolff-Eichel

Die documenta ist die weltweit wichtigste Ausstellung für Gegenwartskunst, die Auskunft über Themen, Diskurse und Ästhetik der Kunst in ihrer Zeit gibt. Wie keine andere Großausstellung verbindet die documenta immer wieder Tendenzen der globalen Welt mit ihrem Standort Kassel. Welt.Kunst.Kassel. hat Hans Eichel eingeladen, um mit ihm über die vergangene documenta fifteen und die Kunst in Kassel zu sprechen.  Im Interview erzählt er von seinen documenta-Erfahrungen, spricht über Politik, Kunst und seineLeidenschaft für die documenta.

Foto: Kai Frommann

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W.K.K.: Ihr Herz schlägt gewissermaßen für die documenta. Wie kein anderer haben Sie Partei für die documenta ergriffen. Sie haben auch sehr schwierige Zeiten in der documenta-Geschichte erlebt. Ich denke da z.B. an das Defizit, das Harry Szeemanns documenta 5 verursacht hat.

H.E.: Ja, das war zunächst eine für die Weiterexistenz der documenta bedrohliche Krise. Der Aufsichtsrat wollte Harry Szeemann, ein äußerst gewissenhafter Mensch übrigens auch beim Umgang mit Geld, persönlich für das Defizit seiner documenta verantwortlich machen. Das rief weltweit heftige Reaktionen hervor. Museumsdirektoren drohten, keinerlei Leihgaben mehr nach Kassel zu schicken, Kuratoren wollten künftige documenta-Ausstellungen boykottieren, Kunstkritiker ebenso. Der Aufsichtsrat gab schließlich nach, die Krise war abgewendet. Dabei hätte man von vornherein wissen können, dass solche Kunstereignisse, die so stark auf Eintrittsgelder und Sponsorenmittel angewiesen sind, immer ein finanzielles Risiko bedeuten. Über ihre künstlerische Bedeutung sagt das nichts aus. Die d5 z.B. gilt längst als eine der wichtigsten Ausstellungen in der bald siebzigjährigen Geschichte dieser Weltausstellung.

Das Defizit der d5 war, gemessen am Ausstellungsetat, etwa so groß wie 2017 das Defizit der d14. Hätte man 2017 die Erfahrungen beherzigt, die der Aufsichtsrat 1972 machen musste, hätte man sich die Skandalisierung dieses Defizits erspart und so die documenta vor einem Rufschaden bewahrt.

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W.K.K.: Herr Eichel, Sie sind ein ausgezeichneter Kenner der documenta und als Kasseler Oberbürgermeister und Aufsichtsratsvorsitzender der documenta GmbH 1975–1991 waren Sie selbst unmittelbar in eine schwierige Entwicklungsphase der Großausstellung involviert. Sie haben viele documenta Ausstellungen besucht und einige aktiv begleitet, haben selber als documenta-Guide gearbeitet. Welche war Ihre erste documenta, die Sie besucht haben?

H.E.: Ich habe alle documenta-Ausstellungen erlebt, auch die erste schon, 1955. Mein Vater war Architekt und Maler, sehr an der documenta interessiert, nahm mich mit. Aber klare Erinnerungen besitze ich erst an die zweite documenta (1959).

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W.K.K.: Wie konnte die documenta die bedeutendste Ausstellung der Gegenwartskunst, das Forum der globalen Kunstgemeinde werden? Welches waren die Bedingungen dafür und wie kann das so bleiben?

H.E.: Arnold Bode hatte von Anfang an die documenta als periodisch wiederkehrende internationale Kunstausstellung gedacht. In den 1970er Jahren skizzierte er dann schon ihre Globalisierung. Er hat eben immer groß gedacht. Und so haben sich die documenta-Verantwortlichen, bei allen Fehlern, die sie auch begingen, schließlich immer verhalten.

1972 leitete zum ersten Mal ein Externer, der Schweizer Harald Szeemann, die Ausstellung. 1992 versammelte dann Jan Hoet, belgischer documenta-Leiter, erstmals Künstler von allen Kontinenten in Kassel. 1997 erklärte schließlich Catherine David, die erste Frau an der Spitze der documenta, die Kunstausstellung zur Weltausstellung. Seit 2002 gab es dann auch Ausstellungsorte außerhalb Deutschlands, auch auf anderen Kontinenten.

Die Bedingungen dafür, dass die documenta das Forum der globalen Kunstgemeinde, das bedeutendste Ereignis der Gegenwartskunst, bleibt, sind klar: Die künstlerische Leitung muss im Rahmen des Grundgesetzes vollkommen frei sein, niemand darf ihr reinreden. Alle künstlerischen Entscheidungen müssen ausschließlich in der globalen Kunstgemeinde getroffen werden. Das bedeutet: Eine hochkarätige internationale Findungskommission schlägt die künstlerische Leitung vor, die documenta-Leiter machen den Vorschlag für die Besetzung der internationalen Findungskommission. Der Aufsichtsrat übernimmt diese Vorschläge. Es findet also keinerlei politische, staatliche Einflussnahme statt. Das ist einmalig weltweit bei internationalen Kunstereignissen. Das ist die Voraussetzung für die herausragende Bedeutung der documenta.

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W.K.K.: Wenn Sie die bisherigen documenta-Ausstellungen Revue passieren lassen: Wie ordnen Sie die documenta fifteen ein? Was hat Ihnen gefallen? Was hat Ihnen weniger gefallen? Haben Sie persönlich ein Lieblingskunstwerk bei der documenta fifteen gehabt?

H.E.: Die documenta fifteen ist einen großen Schritt weiter zur Globalisierung gegangen. Erstmals verantwortete ein Kuratoren-Kollektiv aus dem „globalen Süden“ das Weltkunstereignis. Das bestimmt ihre bleibende Bedeutung.

Gefallen hat mir der heitere, auf gemeinsames Tun orientierte Geist. Es ging nicht nur um Probleme, sondern um gemeinschaftlich erdachte und erarbeitete Lösungen.

Nicht gefallen hat mir die Unfähigkeit der documenta fifteen zur zugleich nachdenklichen wie offensiven Auseinandersetzung mit ihren Kritikern beim Thema Antisemitismus.

Mein Lieblingswerk dieser documenta war das ruruhaus. Es verkörperte mit seiner Offenheit, dem herrschenden kreativen Geist, der Bereitschaft zum hierarchiefreien Diskurs und der fröhlichen Geselligkeit den Geist dieser documenta wie kein anderer Ort, kein anderes Kunstwerk. Das ruruhaus hätte erhalten und weiterentwickelt werden müssen.

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W.K.K.: Herr Eichel, Sie haben in den vergangenen Monaten die Konzentration auf die Antisemitismus-Debatte beklagt und mit scharfen Mitteilungen das bundesweite Medieninteresse wieder auf sich gezogen. Die Bewertung der documenta fifteen in den meisten deutschen Feuilletons war anfangs durchweg positiv bis euphorisch. Das änderte sich schlagartig nach der Entdeckung der antisemitischen Darstellungen in „People’s Justice“. Von da an berichteten die meisten Medien lange nicht mehr über Inhalte und Konzepte der documenta fifteen, sondern fast nur noch über den „Antisemitismus-Skandal“.

Es war in der öffentlichen Wahrnehmung eine turbulente documenta, ausgelöst durch diese Vorwürfe, die sich ja bis zum Ende der documenta fifteen und darüber hinaus zogen. Wie hätte Ihre Krisenintervention ausgesehen? Was wäre Ihr Rat gewesen, um die Eskalation zu vermeiden?

H.E.: Ich glaube nicht, dass diese Eskalation zu vermeiden war. Die Weichen dazu waren seit Anfang Januar 2022, also lange vor Beginn der documenta gestellt. Wir haben die Ausstellung nicht nach ihren Inhalten befragt, sondern ihr unsere Frage: Wie hältst Du es mit dem Antisemitismus, wie hältst Du es mit Israel im Konflikt mit den Palästinensern, gestellt und uns dann auf ihre Konzepte, ihre Anliegen nicht wirklich eingelassen. Tania Bruguera, die weltbekannte kubanische Künstlerin hat das zu Recht kritisiert.

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W.K.K.: War es unter den gegebenen Umständen ein Fehler, ein Kuratoren-Team zu wählen?

H.E.: Nein. Die Entwicklung in der globalen Kunstszene legte es nahe, erstmals ein Kollektiv mit der Leitung der Ausstellung zu betrauen. Die Findungskommission hat das überzeugend begründet. Das Kollektiv hat sich aber zu wenig auf die Besonderheiten der deutschen Situation eingelassen. Und viele Feuilletons in Deutschland und vor allem die Politik in Deutschland waren überhaupt nicht willens und wohl zum Teil auch gar nicht in der Lage, sich auf die ganz neuen Herausforderungen durch diese documenta einzustellen.

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W.K.K.: Unter anderem ist durch Wortmeldungen zahlreicher außenstehender Kritiker vor allem auch von Politikern, die sogar den Abbruch der documenta fifteen forderten oder die Verlegung in eine andere Stadt und nicht zuletzt durch die in großen Teilen negative Presse der documenta ein nicht unerheblicher Imageschaden entstanden. Sehen Sie Möglichkeiten der Reparatur?

H.E.: Nur allmählich und durch beharrliche Wiederholung der Tatsachen. Boris Rhein, der Hessische Ministerpräsident hat Recht: Die documenta fifteen war zu 99,9 % nicht antisemitisch. Wenn wir in Deutschland so wenig Antisemitismus hätten, würde der Zentralrat der Juden unser Land als eine Insel der Vorurteilslosen loben.

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W.K.K.: Mit der Aufarbeitung des Antisemitismus-Themas beschäftigen sich gleich zwei Gremien. Noch während der documenta hat das siebenköpfige Experten-Gremium mit der Vorsitzenden Nicole Deitelhoff seine Arbeit aufgenommen. Die Ergebnisse stehen noch aus. Und das documenta Institut hat mit seinem Gründungsdirektor Prof. Dr. Heinz Bude und Prof. Dr. Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, ein zweijähriges Forschungsprojekt zur Analyse der Antisemitismus-Kontroverse begonnen. Begrüßen Sie diese Initiativen?

H.E.: Die Einsetzung des Expertengremiums unter Leitung von Frau Prof. Deitelhoff halte ich für grundsätzlich verfehlt: Die Gesellschafter Stadt Kassel und Land Hessen müssen auch nur jeden Anschein von Zensur vermeiden. Auch ist „betreutes Kuratieren“ der Tod der documenta, dafür finden sich keine hochrangigen Kuratoren. Das Wesen der documenta ist die Freiheit. Und auch die Besucher brauchen niemanden, der ihnen qua staatlicher Autorität sagt, was gefährlich ist an der Kunst, die gezeigt wird.

Im übrigen warte ich noch auf die Antwort des Expertengremiums an der Fundamentalkritik, die in ZEIT ONLINE an der „Wissenschaftlichkeit“ seiner Arbeit geübt worden ist.

Prof. Bude und Prof. Mendel haben eine Chance, zur Versachlichung der Debatte beizutragen, nachträglich.

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W.K.K.: Glauben Sie, dass es notwendig ist, Veränderungen in der Geschäftsstruktur der documenta gGmbh, beispielsweise bei den Verantwortlichkeiten des Aufsichtsrates, der Findungskommission, im Verhältnis der Geschäftsführung zur künstlerischen Leitung zu initiieren?

H.E.: Nein. Die Verantwortlichkeiten sind klar. Die künstlerische Verantwortung liegt ausschließlich bei den Kuratoren, Organisation und Finanzen bei der Geschäftsführung, dem Aufsichtsrat und den Gesellschaftern. Jeder muss seine Verantwortung wahrnehmen, keiner darf sich in den Bereich des anderen einmischen.

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W.K.K.: Soll der Bund Gesellschafter werden? etc …

H.E.: Das muss zuerst der Bund für sich selbst entscheiden. Kassel aber darf nichts von seinen 50 % Gesellschafteranteile abgeben. Das ist die einzige Garantie dafür, dass die documenta in Kassel bleibt.

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W.K.K.: Insbesondere DIE GRÜNEN fordern ja solche Veränderungen, u. a. im 5‑Punkte-Plan von Frau Roth. Oder die Alt-Grünen stellen sich eine andere documenta-Zukunft vor, fordern neue Strukturen, mehr Öffentlichkeit und einen Beirat für die Kuratoren. Reinhold Weist hat ein Papier verfasst zur Be- und Aufarbeitung nach der d 15. Festzustellen ist, dass die Politik und einige Interessenverbände mehr und mehr Einflussnahme auf die Institution documenta wünschen.

H.E.: Der Vorschlag von Frau Roth, der documenta eine ähnliche Struktur wie dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu verpassen mit Aufsichtsgremien, in denen alle möglichen gesellschaftlichen Gruppen vertreten sind, wäre der Tod der documenta. documenta ist frei und radikal subjektiv. Darin liegen ihre enormen Chancen, aber auch ihre großen Risiken. Wer keine Risiken will, kann keine documenta machen.

Die Vorschläge mancher, keineswegs aller Grünen, zeugen von der Unkenntnis der documenta. Sie würden die documenta ruinieren. Und staatlicher und politischer Einfluss hat in dem Weltkunstereignis nichts zu suchen.

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W.K.K.: Sie haben gekämpft für die documenta wie kein anderer. Ich erinnere an Ihre Stellungnahme gemeinsam mit Wolfram Bremeier, Bertram Hilgen und Christian Geselle. Sie haben auch zahlreiche Interviews in der überregionalen Presse gegeben. Sie sind aus der Deutsch-Israelischen Gesellschaft ausgetreten…

Sie haben eine Bekenner-Petition mit dem Titel: DOCUMENTA FIFTEEN: DANKE! mit Dr. Wendelin Göbel initiiert, mit dem Ziel einer Würdigung der documenta fifteen. Die Petition hat 1.753 Unterstützer. 1.309 aus dem Regierungsbezirk Kassel plus 426 Auswärtige.

Sie haben eine WebSite in Form eines Bürgerforums gemeinsam mit Prof. Siebenhaar eingerichtet. „Bürger-Bündnis – d15.de“. Die HNA mit Frau Fraschke, Herrn Lohr und Herrn von Busse, haben saubere und gut recherchierte Beitrage gebracht. In der Debatte waren aus Kassel Christian Kopetzki und Miki Lazar populär vertreten.

H.E.: Die documenta braucht viele engagierte Verfechter, sonst wird sie nicht überleben.

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W.K.K.: Kunst und Politik sind seit jeher untrennbar miteinander verbunden, und doch stellen sie ihr Verhältnis wechselseitig immer wieder neu in Frage. „Die Kunst ist eine Tochter der Freiheit“, vermerkte Friedrich Schiller. Ohne Freiheit keine Kunst. Wie politisch ist Kunst in Deutschland? Und wo sind der Kunst Grenzen gesetzt?

H.E.: Ich will Schiller widersprechen. Auch in Diktaturen gibt es Kunst. Das hat uns die documenta fifteen, z.B. mit der Präsentation von Kunst aus Kuba gezeigt. Diese Kunst ist meist direkt politisch, agitiert gegen die bestehenden Verhältnisse, die Künstler verstehen sich zugleich als Aktivisten.

Und doch hat Schiller auch Recht. Kunst, die in Freiheit gedeiht, ist niemals eindeutig, niemals einfach agitatorisch, sie ist komplex, lässt verschiedene Deutungen zu. Um diese Kunst zu retten, müssen wir auch in Deutschland, auch für die documenta um die Kunstfreiheit kämpfen, wie sie Art. 5, 3 des Grundgesetzes garantiert. Nur dort, nur am Schluss im Strafrecht liegen die Grenzen der Kunst, nicht z.B. bei den Erwartungen gesellschaftlicher Interessengruppen.

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W.K.K.: Wie bewerten Sie das Spannungsverhältnis von Kunst und Politik?

H.E.: Kunst ist niemals affirmativ, sie bejubelt nie einfach bestehende Verhältnisse. Sie befragt sie auf ihre negativen und positiven Möglichkeiten. Insofern ist sie gegenüber Politik, die meist auf irgendeine Form von Bewahrung des Bestehenden gerichtet ist, subversiv. Das spüren die politisch Verantwortlichen, deswegen versuchen sie, die Kunstfreiheit einzuschränken, in Diktaturen sowieso. Aber auch in Demokratien gibt es diese Versuchung.

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W.K.K.: Hat Kunst heute einen Einfluss auf die Gesellschaft? Haben Künstler Einfluss auf die politische Debatte in Deutschland? Denken Sie, dass die aktuelle politische Situation einen großen Einfluss auf die Kunst hat?

H.E.: Ich sehe nicht, dass Künstler gegenwärtig stärker Einfluss auf die politische Entwicklung zu nehmen versuchen. Zu Willy Brandts Zeiten z.B. war ihr politisches Engagement sehr viel größer und sichtbarer. Brandts Friedenspolitik und sein Einsatz für den „globalen Süden“ regten die Fantasien aller an, die über die bestehenden Verhältnisse hinaus denken wollten.

Umgekehrt gibt es heute eine Tendenz der Politik und einzelner gesellschaftlicher Gruppen, die Kunst- und die Meinungsäußerungsfreiheit einzuschränken. Die Diskussion um die documenta fifteen war — und ist z.T. immer noch — ein besonders erschreckendes Beispiel dafür.

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W.K.K.: Was sagen Sie als Politiker zur derzeitigen politischen Lage? Leben wir in einer gespaltenen Gesellschaft? Die Situation wirkt verfahren, die Lager zerstritten, der gesellschaftliche Diskurs gespannt. Haben Sie eine Idee, wie wir dort wieder herauskommen?

H.E.: Wir leben in einer Gesellschaft, die zunehmend diskursunfähig wird. Man denkt immer mehr nur noch in Schwarz-Weiß, Grautöne, vermittelnde Positionen scheinen immer weniger Chancen zu haben. Gegensätze, Unvereinbarkeiten können offenbar immer noch friedlich ausgehalten werden. Das aber ist erst Demokratie in Bestform. Wie wir aus dieser Verhärtung wieder herauskommen? Sprachlich abrüsten, geduldiges Zuhören, Nachdenken und unaufgeregtes Argumentieren — mehr fällt mir dazu nicht ein. Hoffentlich reicht das auf Dauer.

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W.K.K.: Grundsätzlich stellt sich die Frage: Träumen Sie von einer homogeneren Gesellschaft? Sollte es überhaupt ein Ziel sein, zu einer einigenden Gesellschaft zu kommen? Oder sollten wir im Sinne einer Vielfalt vielmehr lernen, mit Unterschieden konstruktiv umzugehen?

H.E.: Die Schere zwischen arm und reich hat sich viel zu sehr geöffnet bei uns, aber auch weltweit. Das müssen wir dringend ändern, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu bewahren und wieder zu stärken. Kulturelle, ethnische, weltanschauliche Vielfalt dagegen ist Reichtum, wir müssen sie entfalten, kreativ nutzen, keinesfalls zwangsweise einschränken. So machen wir das Zusammenleben im globalen Dorf lebenswert. Davon handelte übrigens auch die documenta fifteen.

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W.K.K.: Kann Kultur dabei helfen, diese Widersprüche und Spaltungen zu überwinden? Ist es überhaupt Aufgabe von Kunst, gesellschaftliche Wunden zu heilen oder wäre diese Erwartung nicht vielmehr eine heillose Überforderung? Oder sollte Kulturpolitik unter Umständen sogar mehr Gewicht in der politischen Landschaft haben?

H.E.: Bei Kunst und Kultur geht es um den kreativen Umgang mit Widersprüchen. Eine von diesem Verständnis geprägte Kulturpolitik sollte eine viel größere Rolle in unserem Zusammenleben spielen. Aber überstrapazieren darf man seine Erwartungen an ihre glück- und friedensstiftende Wirkungen nicht.

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W.K.K.: Wir bedanken uns bei Ihnen für das Gespräch. 

Nachlese 1
Achim Müller

Auf den Spuren der documenta fifteen in der Vorweihnachtszeit

Am 6. Dezember 2022 fahre ich erneut nach Kassel. Zweieinhalb Monate nach dem Ende der documenta fifteen ist es eine Suche nach Spuren und einer neuen Antwort in den Wahrnehmungen, den Erinnerungen von Menschen in Kassel und im urbanen Raum, im Stadtbild. Es ist eine erste Annäherung an ein Phänomen: Mit dem jeweiligen Ende der documenta verwandelt sich die Stadt über Nacht zurück in ihren „Normalzustand“ – der nordhessischen Provinzstadt von herbem Charme. Auch diesmal?

Ich beginne die Recherche am ruruHaus, also an dem Ort in Kassel, den ruangrupa vor drei Jahren als ersten in Kassel mit ihrem Lumbung-Gedanken „besiedelt“ hatte. Während der documenta fifteen war hier ein quirliger Begegnungs-, Orientierungs- und Ausgangsort für all die Besucher, die die documenta in diesem Sommer angezogen hat, entstanden. Für einen Sommer lang avancierte das ehemalige Sportkaufhaus zum „Wohnzimmer“ der Stadt und der globalen Kunstwelt zugleich.

Nun wird der Blick auf die farbfrohe Grafik, die von der documenta fifteen geblieben ist, abgelenkt von der großen Rutschbahn auf der Treppenstraße – wegen Sparmaßnahmen zwar ohne Eis, aber freudig belebt und laut.

Im ruruHaus selbst ist ein Impfzentrum eingerichtet worden, ganz im Gegensatz zum Sommer fast unbesucht. Rund um das Gebäude pulsiert die Einkaufsfußgängerzone, der Weihnachtsmarkt, und auf dem Friedrichsplatz, vor dem Fridericianum mit wieder würdevoll weißem Säulenportal ist das riesige gelb-schwarze Zelt des Artistenfestivals Flic Flac fast fertig.

Im Zentrum: erste Straßenbegegnungen

Die Sorgen und Vergnügungen des Alltags haben das Leben im Zentrum Kassel also wieder fest im Griff – was auch im Verhalten der Passanten direkt spürbar ist: Während im Sommer fast alle Angesprochenen für ein Interview zur documenta zu gewinnen waren und sie in der Regel auch besucht hatten, wollen im Dezember nur die wenigsten angesprochen werden. In der Regel eilen sie im vorweihnachtlichen Einkaufsstress vorüber oder möchten nicht vom wärmenden Glühwein abgelenkt werden. Documenta fifteen – tempi passati?

Die Aussagen der zu einem Gespräch Bereiten zeichnen ein nüchternes und eher verhaltenes Bild: neben Ablehnung aufgrund der Antisemitismus-Vorwürfe oder wegen eines zu starken Fokus darauf, wegen zu wenig „schöner“ Kunst findet sich aber auch Wohlwollen wegen der politischen Haltung, der Lebendigkeit und der Zugänglichkeit der im Sommer gezeigten Kunst: geteilte Meinungen bei den Auskunftswilligen

Im Osten: der zweite Befragungstag

Der zweite Nach-documenta-Erkundungstag beginnt in Bettenhausen mit den Spielstätten, in denen zum Höhepunkt im Sommer die Besucherschlangen häufig die Suche nach den Orten erleichterten. Nun ist es hier winterlich grau, aber anders als im Weihnachts­einkaufstrubel der Innenstadt ist die Gesprächsbereitschaft größer, seien es Wartende an der Straßenbahnhaltestelle, Betreiber von Spielstätten, Obdachlose oder Tankstellenkunden. Die Stimmen reichen von wohlwollender Einordnung der Debatten in internationale Diskurse über fröhliche Erinnerung an die Stimmung der Orte bis zum kategorischen „Die schlimmste documenta jemals, was haben die sich dabei gedacht?“. Gemischte Gefühle, gemischte Erinnerungen!

Die sichtbaren Spuren sind rar: ein von den Künstlern zurückgelassenes Bild im Hallenbad Ost, nun wieder Kreativoffice und Eventlocation, die mit Graffiti zu verwechselnden Sprühzeichnungen beim Hübner-Areal.

Am Sandershaus und bei St. Kunigundis sind die Spuren dagegen gründlich getilgt. Wie in den Aussagen des Tankstellenkunden spürbar, gehen auch hier die Alltagssorgen deutlich vor.

Am Fluss und um den Kulturbahnhof herum

Ein ähnliches Bild zeigt sich an der Fulda: Die kinderfreundliche Kletterlandschaft am Bootshaus Ahoi – durch das verschlossene Tor sind lediglich ein paar Pfosten zu sehen – ist ebenso Geschichte wie die Verweilangebote am gegenüberliegenden Ufer. Die Spitzhacke von Claes Oldenburg erzählt wieder ganz alleine von vergangenen documentas und ihrer heimlichen Beziehung zum Herkules.

Weiter geht es, zu den Werken früherer documentas – dem Obelisken der d14 und dem „Man walking to the sky“ am Kulturbahnhof. Feste Fermente der documenta fifteen nirgends.

Selbst das skandalumtoste WH 22 und sein so populärer, gern besuchter Innenhof wirken wie ein fest verriegeltes Paradies. Bonjour tristesse!

Schließlich führt der Weg zum für diesen Tag letzten Ortsbesuch, dem Trafohaus, während der documenta eine weiterer Ort außerhalb des klassischen Ausstellungsbetriebs. Hier gibt es Spuren, liegen- und stehengelassene Gegenstände, Zeichnungen, QR-Codes.

Ohne das dazugehörige lebendige soziale, künstlerische Ereignis sind sie mehr wie Zurückgelassenes denn wie ein Werk für die Kassel, atmen sie eher Achtlosigkeit denn Achtsamkeit.

Dazu passend hat eine Passantin an der Straßenbahnhaltestelle von der documenta fifteen nur vom Hörensagen etwas mitbekommen: Während die Welt für die documenta nach Kassel kam, war sie größtenteils zur Arbeit nach Nordrhein-Westfalen, und hat die documenta auch in ihrer Zeit in Kassel nicht besucht.

Vom Wesertor zum ICE-Bahnhof: der dritte Tag, kein Echoraum

Am letzten Tag geht es zu einem weiteren „Außenort“: dem Wesertor und dem dortigen Stadtteilzentrum. Keine „künstlerischen“ Spuren – aber in den Gesprächen sind konkrete kleine Arbeiten für die documenta und die lebhaften Veranstaltungen in Erinnerung geblieben.

Der letzte Weg durch die Innenstadt, langsam in Richtung ICE-Bahnhof Wilhelsmhöhe wird dann auch forscherisch zu einer bemerkenswerten Abschiedstour: Auf der gesamten Strecke finden sich keine Gesprächspartner, die an einem grauen Dezember-Alltags-Nachmittag über die documenta fifteen im vergangenen Sommer sprechen möchten. Auch das bedeutet Normalität.

Ein erstes Resümé

Was also war noch zu finden von der documenta fifteen mitten im Advent? Im Stadtraum eher zufällig und absichtslos Zurückgebliebenes. Bei den befragten Menschen die aus den Interviews während der documenta im Sommer vertraute Mischung von positivem – starke politische Stellungnahme, leicht zugängliche Kunst aus anderen Regionen, lebendigen Begleitveranstaltungen – bis zu den bekannten Kritikpunktenn – Antisemitismus, verpasste Möglichkeiten für Dialoge, zu wenig „schöne“ Kunst im öffentlichen Raum. In Unterschied zu den Kunstinteressierten im Sommer jedoch war bei den „normalen“ Menschen in Kassel aber oft auch eine deutliche Distanz zur documenta spürbar. Diese auf Bürgerstimmen und urbaner Sichtbarkeit fokussierte Nachlese mag nur den überraschen, der den „Mythos documenta“ oder Kassel nicht wirklich kennt, der vielleicht eine übergroße, zu optimistische Erwartung an die „Nachhaltigkeit“ künstlerisch künstlerisch-kultureller Großereignisse hegt. Die documenta bleibt über ihre No. fifteen hinaus ein unvergleichbares, nur mit einem Ort verbundenes, sich selbst zeugendes System. Was vom Nachhaltigkeitsanspruch und „Ekosystem“ ruangrupas, dem eher auf den zweiten oder dritten Blick Sichtbaren Bestand hat, soll eine „Nachlese 2“ Anfang 2023 herausfinden, in der es um die mit der documenta fifteen verknüpften Projekte und Initiativen gehen wird.

Hans Eichel

documenta fifteen – ist eine Weltkunstausstellung, in der erstmals ein Kollektiv aus dem globalen Süden die Perspektive bestimmt, in Deutschland überhaupt möglich?

Um die documenta fifteen wird eine lebhafte, teils heftige Debatte geführt. In dieser Debatte offenbart sich ein Grundmissverständnis über Wesen und Bedeutung der documenta, das lebensgefährlich für die Kunstausstellung werden kann. Die documenta ist längst keine deutsche Ausstellung mehr, bei der man vielleicht noch auf die Idee kommen könnte, ihr mit nationaler Politik Vorgaben zu machen. Die documenta ist das Forum der globalen Kunstgemeinde. Sie findet überwiegend in Deutschland, in Kassel statt, sie wird überwiegend mit deutschem Geld finanziert, aber ihr Inhalt wird global bestimmt. Das macht sie so einmalig, deshalb ist sie so bedeutend. Was sind die Voraussetzungen für ihre Globalität?

1955 wurde sie in Kassel von Arnold Bode und seinem Freundeskreis gegründet, um Deutschland wieder in die „Westliche Moderne“ zurückzuführen. Die erste documenta löste eine überwältigende Resonanz aus, so dass die zweite sich wie selbstverständlich anschloss. Es ging um die künstlerischen Positionen der Gegenwart. Die documenta internationalisierte sich, blieb aber europäisch-nordamerikanisch zentriert. Die documenta 5 (1972) verantwortete erstmals ein „Externer“, der Schweizer Harald Szeemann. Seitdem gilt das Prinzip der Alleinverantwortung des Kurators, der Kuratorin. Das ist die künstlerische Freiheit der documenta.

Mit der d 10 (1997) beendete die Französin Catherine David die europäisch-nordamerikanische Vorherrschaft. Sie erklärte die documenta zur Weltkunstausstellung. Okwui Enwezor (d 11, 2002), Nigerianer mit amerikanischem Pass, erster Nichteuropäer als Kurator, zog daraus die Konsequenz: Fünf Plattformen auf vier Kontinenten, die letzte die Ausstellung in Kassel, das zusammen war für ihn die documenta. Sie globalisierte sich also auch räumlich. Die d 12 (2007) und die d 13 (2012) führten das fort. Adam Szymczyk (d 14, 2017) veranstaltete die Ausstellung in Athen und Kassel als gleichberechtigten und gleichgewichtigen Standorten. Und nun verantwortet erstmals ein Künstler/- innenkollektiv aus dem globalen Süden das Weltkunstereignis.

Auch das Auswahlverfahren für die künstlerische Leitung ist längst kein deutsches Verfahren mehr. Acht höchst renommierte Museumsleiter/-leiterinnen, Ausstellungsmacher, Kunstkritiker aus mehreren Kontinenten erarbeiten einen Vorschlag (nicht eine Vorschlagsliste) für die Leitung der documenta. Der Aufsichtsrat übernimmt dann diesen Vorschlag als förmlichen Beschluss. Der letzte gestaltende deutsche Einfluss liegt also bei der Benennung der hochkarätigen globalen Findungskommission. Dieser Rückzug der Politik, die Verlegung der Entscheidungen zu künstlerischen Fragen immer stärker in die globale Kunstszene, das war eine auch vom Aufsichtsrat bewusst gesteuerte Entwicklung. Er vollzog, was Arnold Bode skizzenhaft vorgedacht hatte. Wenn irgendwo, dann gilt hier das Motto: global denken, lokal handeln.

Keine andere internationale Kunstausstellung hat diese Unabhängigkeit und Freiheit. So ist die documenta zu dem Forum der Weltkunstgemeinde geworden, beheimatet in Kassel, einer im Weltmaßstab kleinen Stadt in der nordhessischen Provinz. Ihre Globalität ist ihre Einmaligkeit. Deutschland sollte stolz darauf sein.

Diese Einmaligkeit hat ihren Preis. Kassel und das Land Hessen als Gesellschafter müssen sie vorrangig finanzieren. Der Bund gibt nur einen kleinen Zuschuss. Hineinreden aber dürfen sie alle nicht. Kunstauffassungen aus aller Welt begegnen sich hier, Streit ist vorprogrammiert, muss ausgehalten und ausgetragen werden, mit den Mitteln der Kunst, im Diskurs der Zivilgesellschaft. Die künstlerische Freiheit garantiert das Grundgesetz. Darum kann es die documenta auch nur in einer Demokratie geben. Die Grenzen der Freiheit definiert nicht die Politik, nicht gesellschaftliche Gruppen mit ihren Erwartungen, nur das Recht. Und wenn und soweit die documenta in Deutschland stattfindet, das hier geltende Recht. Volksverhetzung z. B. ist immer strafbar. Und die documenta wird immer das Lebensrecht und die Würde aller Menschen verteidigen. Wie könnte sie sonst Forum der Weltkunstgemeinde sein?

Und nun diese Debatte. Das sogenannte „Bündnis gegen Antisemitismus Kassel“  erhob Anfang des Jahres den Vorwurf, die documenta fifteen sei antisemitisch. Begründet wurde dies in der Hauptsache mit der Einladung des palästinensischen Künstler/-innenkollektivs „The Question of Funding“ und der Einstellung seines Sprechers. Außerdem wiesen angeblich Mitglieder der globalen Findungskommission und auch eingeladene Künstler / Künstlerinnen eine Nähe zur BDS – Initiative auf, die einen Boykott Israels propagiert. Diese BDS – Initiative hatte der Bundestag in einer Resolution als antisemitisch eingestuft und verlangt, Künstlern, die sie unterstützen, keine öffentlichen Räume und keine öffentlichen Mittel für Auftritte oder Ausstellungen zur Verfügung zu stellen. Gegen diese Resolution verwahrten sich mehr als hundert Repräsentantinnen und Repräsentanten der führenden deutschen Kultureinrichtungen („GG 5.3 Weltoffenheit“). In Europa steht Deutschland mit dieser Resolution ziemlich allein da, weltweit sowieso.

Eine Reihe von Medien übernahm sofort und ungeprüft diese Vorwürfe des Kasseler Bündnisses.

Die künstlerische Leitung der documenta fifteen positionierte sich eindeutig:

„Grundlage der documenta fifteen ist die Meinungsfreiheit einerseits und die entschiedene Ablehnung von Antisemitismus, Rassismus, Extremismus, Islamophobie und jeder Form von gewaltbereitem Fundamentalismus andererseits. Das Recht aller Menschen auf ein selbstbestimmtes Leben in Frieden, Würde und Sicherheit ist für das Team der documenta fifteen elementar.“ (Erklärung vom 19. Januar 2022)

Aber die Debatte ging und geht munter weiter, befeuert auch durch einen zehnseitigen offenen Brief von Künstlerkollektiven, die zur documenta fifteen eingeladen sind.

Zu der ganzen Debatte bleibt einiges nachzutragen:

Der Hauptvorwurf, das zur documenta fifteen eingeladene palästinensische Künstlerkollektiv, insbesondere sein Sprecher, sei antisemitisch, ist unhaltbar. Das haben u.a.  die Kasseler Lokalzeitung HNA und die Berliner Zeitung in sorgfältigen Recherchen nachgewiesen. Es ist jedoch nicht erkennbar, dass dieser Nachweis in der weiteren öffentlichen Debatte überhaupt eine Rolle spielt.

Schwieriger ist für Deutsche die Debatte um BDS. Der Verfasser denkt, dass ein Deutscher dem BDS niemals zustimmen kann, wie kritisch er auch immer die klar völkerrechtswidrige Siedlungspolitik Israels in den besetzten Gebieten beurteilt. Die Nazis hatten ja die Judenverfolgung u. a. mit dem Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte begonnen. Überhaupt bleibt die Frage, wie sinnvoll Boykotte sind, was sie zu einer Problemlösung leisten. Und ist es nicht ein Widerspruch, den gegen Israel gerichteten Boykott–Aufruf zu kritisieren und ihn dann mit einem anderen Boykott– Aufruf zu beantworten? Hat nicht „GG 5.3 Weltoffenheit“ recht, dass man nur dem entgegentreten kann, was man kennengelernt hat?

Für die documenta jedenfalls (und überhaupt für den Kunstbetrieb in Deutschland) lässt sich das Problem nicht durch Verbote lösen. Das ist inzwischen auch gerichtlich klargestellt. Also muss es, wenn die documenta fifteen Anlass dazu gibt, eine zivilgesellschaftliche, vielleicht auch eine heftige Debatte geben. Ja, „we need to talk“, wir müssen diese Kontroverse austragen, einander zuhören, hoffen, dass wir die besseren Argumente haben und dass sie etwas bewirken. Was ist denn die Alternative? Für die documenta gibt es keine – sonst gäbe es zukünftig keine documenta als Forum der Weltkunstgemeinde.

Diese Debatte wird nun nicht im Vorfeld der documenta fifteen, sondern erst während des Weltkunstereignisses in genauer Kenntnis der Ausstellung geführt werden können. Der Zentralrat der Juden hat die Zusammensetzung der Podien der von der documenta geplanten drei Diskursveranstaltungen kritisiert und wollte wohl Einfluss auf die Auswahl der Teilnehmer/-innen nehmen. Einige Teilnehmer haben wohl auch wegen dieses Streits abgesagt. Es war ein Fehler der documenta fifteen, im Vorfeld der Ausstellung diesen Diskurs zu planen. Auf welcher Basis denn? Man hätte sich dieses mediale Unglück ersparen können.

Dahinter aber stecken zwei viel grundsätzlichere und viel gefährlichere mögliche Konflikte:

Die ganze Debatte hat mit dem Konzept der documenta fifteen überhaupt nichts zu tun. „Für die documenta fifteen haben ruangrupa und das künstlerische Team Positionen eingeladen, die sich im Sinne der lumbung–Praxis mit künstlerischen Mitteln für ihre jeweiligen lokalen Kontexte engagieren. Die Künstler*innen werden dabei nicht nach dem Kriterium eingeladen, ob sie sich als apolitisch oder einer bestimmten politischen Richtung zugehörig verstehen. In der Akzeptanz der Komplexität unserer Gegenwart macht sich die documenta fifteen mit keiner politischen Bewegung gemein, betont aber das Recht aller Menschen, sich für ihre Rechte und gegen Diskriminierung einzusetzen.“ (Erklärung vom 19.Januar.2022)

Wir haben der documenta fifteen diese Debatte, die – aus verständlichen Gründen – besonders in Deutschland geführt wird, aufgezwungen. Sind wir überhaupt in der Lage und bereit, uns der documenta fifteen und ihrem Anliegen zu öffnen?

Und noch grundsätzlicher: Alle documenta–Ausstellungen seit der d 10 beanspruchten, Weltkunstausstellung zu sein. Sie wurden bestimmt durch die Perspektive und Maßstäbe des globalen Nordens, genauer: seines westlichen Teils. Der globale Süden in all seiner Komplexität blieb Objekt der Betrachtung. Dieses Mal, zum ersten Mal, ist es umgekehrt: Der globale Norden ist Objekt, die Perspektive und die Maßstäbe bestimmt ein Kollektiv aus dem globalen Süden. Halten wir das aus? Die Antwort auf diese Frage entscheidet darüber, ob es in Zukunft noch eine globale documenta in Deutschland geben kann, vielleicht ob es überhaupt weiter ein Forum der globalen Kunstgemeinde geben kann. Sollte die Antwort „Nein“ lauten, müsste man noch viel mehr um den Zustand der Welt fürchten als ohnehin schon. Deshalb sollten wir uns mit allen Mitteln, die das Grundgesetz zur Verfügung stellt, für ein „Ja“ einsetzen.

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