Die Bürger-Stimmen fangen die Stimmungen auf der documenta ein. Zufällig ausgewählte Besucher der documenta fifteen geben in spontanen Interviews Auskunft zu ihrer Erfahrung beim Besuch der Ausstellungen und ihrer Wahrnehmung der documenta fifteen. Angesprochen und befragt werden sie vor Ort, direkt nach dem Besuch der documenta. Die Gespräche werden offen und an die Gesprächspartner angepasst geführt – gleichzeitig folgen sie einer Reihe von Leitfragen. So wachsen die Erfahrungen der Besucher, so unterschiedlich sie sind, positiv oder negativ, zu einer Atmosphäre in Worten zusammen. Eckige Klammern wie […] enthalten Auslassungen unverständlicher Passagen, Korrekturen zum Beispiel zu falsch benannten Veranstaltungsorten oder Ergänzungen.
Hans EichelInterview mit Sonja Rosettini und Helmut Plate (Welt.Kunst.Kassel)
Nach der documenta ist vor der documenta
Hans Eichel im Gespräch mit Sonja Rosettini und Helmut Plate von Welt.Kunst.Kassel
Das Interview ist im Original veröffentlicht auf der Website von Welt.Kunst.Kassel (www.welt-kunst-kassel.de)
Die documenta ist die weltweit wichtigste Ausstellung für Gegenwartskunst, die Auskunft über Themen, Diskurse und Ästhetik der Kunst in ihrer Zeit gibt. Wie keine andere Großausstellung verbindet die documenta immer wieder Tendenzen der globalen Welt mit ihrem Standort Kassel. Welt.Kunst.Kassel. hat Hans Eichel eingeladen, um mit ihm über die vergangene documenta fifteen und die Kunst in Kassel zu sprechen. Im Interview erzählt er von seinen documenta-Erfahrungen, spricht über Politik, Kunst und seineLeidenschaft für die documenta.
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W.K.K.: Ihr Herz schlägt gewissermaßen für die documenta. Wie kein anderer haben Sie Partei für die documenta ergriffen. Sie haben auch sehr schwierige Zeiten in der documenta-Geschichte erlebt. Ich denke da z.B. an das Defizit, das Harry Szeemanns documenta 5 verursacht hat.
H.E.: Ja, das war zunächst eine für die Weiterexistenz der documenta bedrohliche Krise. Der Aufsichtsrat wollte Harry Szeemann, ein äußerst gewissenhafter Mensch übrigens auch beim Umgang mit Geld, persönlich für das Defizit seiner documenta verantwortlich machen. Das rief weltweit heftige Reaktionen hervor. Museumsdirektoren drohten, keinerlei Leihgaben mehr nach Kassel zu schicken, Kuratoren wollten künftige documenta-Ausstellungen boykottieren, Kunstkritiker ebenso. Der Aufsichtsrat gab schließlich nach, die Krise war abgewendet. Dabei hätte man von vornherein wissen können, dass solche Kunstereignisse, die so stark auf Eintrittsgelder und Sponsorenmittel angewiesen sind, immer ein finanzielles Risiko bedeuten. Über ihre künstlerische Bedeutung sagt das nichts aus. Die d5 z.B. gilt längst als eine der wichtigsten Ausstellungen in der bald siebzigjährigen Geschichte dieser Weltausstellung.
Das Defizit der d5 war, gemessen am Ausstellungsetat, etwa so groß wie 2017 das Defizit der d14. Hätte man 2017 die Erfahrungen beherzigt, die der Aufsichtsrat 1972 machen musste, hätte man sich die Skandalisierung dieses Defizits erspart und so die documenta vor einem Rufschaden bewahrt.
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W.K.K.: Herr Eichel, Sie sind ein ausgezeichneter Kenner der documenta und als Kasseler Oberbürgermeister und Aufsichtsratsvorsitzender der documenta GmbH 1975–1991 waren Sie selbst unmittelbar in eine schwierige Entwicklungsphase der Großausstellung involviert. Sie haben viele documenta Ausstellungen besucht und einige aktiv begleitet, haben selber als documenta-Guide gearbeitet. Welche war Ihre erste documenta, die Sie besucht haben?
H.E.: Ich habe alle documenta-Ausstellungen erlebt, auch die erste schon, 1955. Mein Vater war Architekt und Maler, sehr an der documenta interessiert, nahm mich mit. Aber klare Erinnerungen besitze ich erst an die zweite documenta (1959).
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W.K.K.: Wie konnte die documenta die bedeutendste Ausstellung der Gegenwartskunst, das Forum der globalen Kunstgemeinde werden? Welches waren die Bedingungen dafür und wie kann das so bleiben?
H.E.: Arnold Bode hatte von Anfang an die documenta als periodisch wiederkehrende internationale Kunstausstellung gedacht. In den 1970er Jahren skizzierte er dann schon ihre Globalisierung. Er hat eben immer groß gedacht. Und so haben sich die documenta-Verantwortlichen, bei allen Fehlern, die sie auch begingen, schließlich immer verhalten.
1972 leitete zum ersten Mal ein Externer, der Schweizer Harald Szeemann, die Ausstellung. 1992 versammelte dann Jan Hoet, belgischer documenta-Leiter, erstmals Künstler von allen Kontinenten in Kassel. 1997 erklärte schließlich Catherine David, die erste Frau an der Spitze der documenta, die Kunstausstellung zur Weltausstellung. Seit 2002 gab es dann auch Ausstellungsorte außerhalb Deutschlands, auch auf anderen Kontinenten.
Die Bedingungen dafür, dass die documenta das Forum der globalen Kunstgemeinde, das bedeutendste Ereignis der Gegenwartskunst, bleibt, sind klar: Die künstlerische Leitung muss im Rahmen des Grundgesetzes vollkommen frei sein, niemand darf ihr reinreden. Alle künstlerischen Entscheidungen müssen ausschließlich in der globalen Kunstgemeinde getroffen werden. Das bedeutet: Eine hochkarätige internationale Findungskommission schlägt die künstlerische Leitung vor, die documenta-Leiter machen den Vorschlag für die Besetzung der internationalen Findungskommission. Der Aufsichtsrat übernimmt diese Vorschläge. Es findet also keinerlei politische, staatliche Einflussnahme statt. Das ist einmalig weltweit bei internationalen Kunstereignissen. Das ist die Voraussetzung für die herausragende Bedeutung der documenta.
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W.K.K.: Wenn Sie die bisherigen documenta-Ausstellungen Revue passieren lassen: Wie ordnen Sie die documenta fifteen ein? Was hat Ihnen gefallen? Was hat Ihnen weniger gefallen? Haben Sie persönlich ein Lieblingskunstwerk bei der documenta fifteen gehabt?
H.E.: Die documenta fifteen ist einen großen Schritt weiter zur Globalisierung gegangen. Erstmals verantwortete ein Kuratoren-Kollektiv aus dem „globalen Süden“ das Weltkunstereignis. Das bestimmt ihre bleibende Bedeutung.
Gefallen hat mir der heitere, auf gemeinsames Tun orientierte Geist. Es ging nicht nur um Probleme, sondern um gemeinschaftlich erdachte und erarbeitete Lösungen.
Nicht gefallen hat mir die Unfähigkeit der documenta fifteen zur zugleich nachdenklichen wie offensiven Auseinandersetzung mit ihren Kritikern beim Thema Antisemitismus.
Mein Lieblingswerk dieser documenta war das ruruhaus. Es verkörperte mit seiner Offenheit, dem herrschenden kreativen Geist, der Bereitschaft zum hierarchiefreien Diskurs und der fröhlichen Geselligkeit den Geist dieser documenta wie kein anderer Ort, kein anderes Kunstwerk. Das ruruhaus hätte erhalten und weiterentwickelt werden müssen.
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W.K.K.: Herr Eichel, Sie haben in den vergangenen Monaten die Konzentration auf die Antisemitismus-Debatte beklagt und mit scharfen Mitteilungen das bundesweite Medieninteresse wieder auf sich gezogen. Die Bewertung der documenta fifteen in den meisten deutschen Feuilletons war anfangs durchweg positiv bis euphorisch. Das änderte sich schlagartig nach der Entdeckung der antisemitischen Darstellungen in „People’s Justice“. Von da an berichteten die meisten Medien lange nicht mehr über Inhalte und Konzepte der documenta fifteen, sondern fast nur noch über den „Antisemitismus-Skandal“.
Es war in der öffentlichen Wahrnehmung eine turbulente documenta, ausgelöst durch diese Vorwürfe, die sich ja bis zum Ende der documenta fifteen und darüber hinaus zogen. Wie hätte Ihre Krisenintervention ausgesehen? Was wäre Ihr Rat gewesen, um die Eskalation zu vermeiden?
H.E.: Ich glaube nicht, dass diese Eskalation zu vermeiden war. Die Weichen dazu waren seit Anfang Januar 2022, also lange vor Beginn der documenta gestellt. Wir haben die Ausstellung nicht nach ihren Inhalten befragt, sondern ihr unsere Frage: Wie hältst Du es mit dem Antisemitismus, wie hältst Du es mit Israel im Konflikt mit den Palästinensern, gestellt und uns dann auf ihre Konzepte, ihre Anliegen nicht wirklich eingelassen. Tania Bruguera, die weltbekannte kubanische Künstlerin hat das zu Recht kritisiert.
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W.K.K.: War es unter den gegebenen Umständen ein Fehler, ein Kuratoren-Team zu wählen?
H.E.: Nein. Die Entwicklung in der globalen Kunstszene legte es nahe, erstmals ein Kollektiv mit der Leitung der Ausstellung zu betrauen. Die Findungskommission hat das überzeugend begründet. Das Kollektiv hat sich aber zu wenig auf die Besonderheiten der deutschen Situation eingelassen. Und viele Feuilletons in Deutschland und vor allem die Politik in Deutschland waren überhaupt nicht willens und wohl zum Teil auch gar nicht in der Lage, sich auf die ganz neuen Herausforderungen durch diese documenta einzustellen.
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W.K.K.: Unter anderem ist durch Wortmeldungen zahlreicher außenstehender Kritiker vor allem auch von Politikern, die sogar den Abbruch der documenta fifteen forderten oder die Verlegung in eine andere Stadt und nicht zuletzt durch die in großen Teilen negative Presse der documenta ein nicht unerheblicher Imageschaden entstanden. Sehen Sie Möglichkeiten der Reparatur?
H.E.: Nur allmählich und durch beharrliche Wiederholung der Tatsachen. Boris Rhein, der Hessische Ministerpräsident hat Recht: Die documenta fifteen war zu 99,9 % nicht antisemitisch. Wenn wir in Deutschland so wenig Antisemitismus hätten, würde der Zentralrat der Juden unser Land als eine Insel der Vorurteilslosen loben.
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W.K.K.: Mit der Aufarbeitung des Antisemitismus-Themas beschäftigen sich gleich zwei Gremien. Noch während der documenta hat das siebenköpfige Experten-Gremium mit der Vorsitzenden Nicole Deitelhoff seine Arbeit aufgenommen. Die Ergebnisse stehen noch aus. Und das documenta Institut hat mit seinem Gründungsdirektor Prof. Dr. Heinz Bude und Prof. Dr. Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, ein zweijähriges Forschungsprojekt zur Analyse der Antisemitismus-Kontroverse begonnen. Begrüßen Sie diese Initiativen?
H.E.: Die Einsetzung des Expertengremiums unter Leitung von Frau Prof. Deitelhoff halte ich für grundsätzlich verfehlt: Die Gesellschafter Stadt Kassel und Land Hessen müssen auch nur jeden Anschein von Zensur vermeiden. Auch ist „betreutes Kuratieren“ der Tod der documenta, dafür finden sich keine hochrangigen Kuratoren. Das Wesen der documenta ist die Freiheit. Und auch die Besucher brauchen niemanden, der ihnen qua staatlicher Autorität sagt, was gefährlich ist an der Kunst, die gezeigt wird.
Im übrigen warte ich noch auf die Antwort des Expertengremiums an der Fundamentalkritik, die in ZEIT ONLINE an der „Wissenschaftlichkeit“ seiner Arbeit geübt worden ist.
Prof. Bude und Prof. Mendel haben eine Chance, zur Versachlichung der Debatte beizutragen, nachträglich.
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W.K.K.: Glauben Sie, dass es notwendig ist, Veränderungen in der Geschäftsstruktur der documenta gGmbh, beispielsweise bei den Verantwortlichkeiten des Aufsichtsrates, der Findungskommission, im Verhältnis der Geschäftsführung zur künstlerischen Leitung zu initiieren?
H.E.: Nein. Die Verantwortlichkeiten sind klar. Die künstlerische Verantwortung liegt ausschließlich bei den Kuratoren, Organisation und Finanzen bei der Geschäftsführung, dem Aufsichtsrat und den Gesellschaftern. Jeder muss seine Verantwortung wahrnehmen, keiner darf sich in den Bereich des anderen einmischen.
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W.K.K.: Soll der Bund Gesellschafter werden? etc …
H.E.: Das muss zuerst der Bund für sich selbst entscheiden. Kassel aber darf nichts von seinen 50 % Gesellschafteranteile abgeben. Das ist die einzige Garantie dafür, dass die documenta in Kassel bleibt.
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W.K.K.: Insbesondere DIE GRÜNEN fordern ja solche Veränderungen, u. a. im 5‑Punkte-Plan von Frau Roth. Oder die Alt-Grünen stellen sich eine andere documenta-Zukunft vor, fordern neue Strukturen, mehr Öffentlichkeit und einen Beirat für die Kuratoren. Reinhold Weist hat ein Papier verfasst zur Be- und Aufarbeitung nach der d 15. Festzustellen ist, dass die Politik und einige Interessenverbände mehr und mehr Einflussnahme auf die Institution documenta wünschen.
H.E.: Der Vorschlag von Frau Roth, der documenta eine ähnliche Struktur wie dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu verpassen mit Aufsichtsgremien, in denen alle möglichen gesellschaftlichen Gruppen vertreten sind, wäre der Tod der documenta. documenta ist frei und radikal subjektiv. Darin liegen ihre enormen Chancen, aber auch ihre großen Risiken. Wer keine Risiken will, kann keine documenta machen.
Die Vorschläge mancher, keineswegs aller Grünen, zeugen von der Unkenntnis der documenta. Sie würden die documenta ruinieren. Und staatlicher und politischer Einfluss hat in dem Weltkunstereignis nichts zu suchen.
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W.K.K.: Sie haben gekämpft für die documenta wie kein anderer. Ich erinnere an Ihre Stellungnahme gemeinsam mit Wolfram Bremeier, Bertram Hilgen und Christian Geselle. Sie haben auch zahlreiche Interviews in der überregionalen Presse gegeben. Sie sind aus der Deutsch-Israelischen Gesellschaft ausgetreten…
Sie haben eine Bekenner-Petition mit dem Titel: DOCUMENTA FIFTEEN: DANKE! mit Dr. Wendelin Göbel initiiert, mit dem Ziel einer Würdigung der documenta fifteen. Die Petition hat 1.753 Unterstützer. 1.309 aus dem Regierungsbezirk Kassel plus 426 Auswärtige.
Sie haben eine WebSite in Form eines Bürgerforums gemeinsam mit Prof. Siebenhaar eingerichtet. „Bürger-Bündnis – d15.de“. Die HNA mit Frau Fraschke, Herrn Lohr und Herrn von Busse, haben saubere und gut recherchierte Beitrage gebracht. In der Debatte waren aus Kassel Christian Kopetzki und Miki Lazar populär vertreten.
H.E.: Die documenta braucht viele engagierte Verfechter, sonst wird sie nicht überleben.
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W.K.K.: Kunst und Politik sind seit jeher untrennbar miteinander verbunden, und doch stellen sie ihr Verhältnis wechselseitig immer wieder neu in Frage. „Die Kunst ist eine Tochter der Freiheit“, vermerkte Friedrich Schiller. Ohne Freiheit keine Kunst. Wie politisch ist Kunst in Deutschland? Und wo sind der Kunst Grenzen gesetzt?
H.E.: Ich will Schiller widersprechen. Auch in Diktaturen gibt es Kunst. Das hat uns die documenta fifteen, z.B. mit der Präsentation von Kunst aus Kuba gezeigt. Diese Kunst ist meist direkt politisch, agitiert gegen die bestehenden Verhältnisse, die Künstler verstehen sich zugleich als Aktivisten.
Und doch hat Schiller auch Recht. Kunst, die in Freiheit gedeiht, ist niemals eindeutig, niemals einfach agitatorisch, sie ist komplex, lässt verschiedene Deutungen zu. Um diese Kunst zu retten, müssen wir auch in Deutschland, auch für die documenta um die Kunstfreiheit kämpfen, wie sie Art. 5, 3 des Grundgesetzes garantiert. Nur dort, nur am Schluss im Strafrecht liegen die Grenzen der Kunst, nicht z.B. bei den Erwartungen gesellschaftlicher Interessengruppen.
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W.K.K.: Wie bewerten Sie das Spannungsverhältnis von Kunst und Politik?
H.E.: Kunst ist niemals affirmativ, sie bejubelt nie einfach bestehende Verhältnisse. Sie befragt sie auf ihre negativen und positiven Möglichkeiten. Insofern ist sie gegenüber Politik, die meist auf irgendeine Form von Bewahrung des Bestehenden gerichtet ist, subversiv. Das spüren die politisch Verantwortlichen, deswegen versuchen sie, die Kunstfreiheit einzuschränken, in Diktaturen sowieso. Aber auch in Demokratien gibt es diese Versuchung.
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W.K.K.: Hat Kunst heute einen Einfluss auf die Gesellschaft? Haben Künstler Einfluss auf die politische Debatte in Deutschland? Denken Sie, dass die aktuelle politische Situation einen großen Einfluss auf die Kunst hat?
H.E.: Ich sehe nicht, dass Künstler gegenwärtig stärker Einfluss auf die politische Entwicklung zu nehmen versuchen. Zu Willy Brandts Zeiten z.B. war ihr politisches Engagement sehr viel größer und sichtbarer. Brandts Friedenspolitik und sein Einsatz für den „globalen Süden“ regten die Fantasien aller an, die über die bestehenden Verhältnisse hinaus denken wollten.
Umgekehrt gibt es heute eine Tendenz der Politik und einzelner gesellschaftlicher Gruppen, die Kunst- und die Meinungsäußerungsfreiheit einzuschränken. Die Diskussion um die documenta fifteen war — und ist z.T. immer noch — ein besonders erschreckendes Beispiel dafür.
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W.K.K.: Was sagen Sie als Politiker zur derzeitigen politischen Lage? Leben wir in einer gespaltenen Gesellschaft? Die Situation wirkt verfahren, die Lager zerstritten, der gesellschaftliche Diskurs gespannt. Haben Sie eine Idee, wie wir dort wieder herauskommen?
H.E.: Wir leben in einer Gesellschaft, die zunehmend diskursunfähig wird. Man denkt immer mehr nur noch in Schwarz-Weiß, Grautöne, vermittelnde Positionen scheinen immer weniger Chancen zu haben. Gegensätze, Unvereinbarkeiten können offenbar immer noch friedlich ausgehalten werden. Das aber ist erst Demokratie in Bestform. Wie wir aus dieser Verhärtung wieder herauskommen? Sprachlich abrüsten, geduldiges Zuhören, Nachdenken und unaufgeregtes Argumentieren — mehr fällt mir dazu nicht ein. Hoffentlich reicht das auf Dauer.
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W.K.K.: Grundsätzlich stellt sich die Frage: Träumen Sie von einer homogeneren Gesellschaft? Sollte es überhaupt ein Ziel sein, zu einer einigenden Gesellschaft zu kommen? Oder sollten wir im Sinne einer Vielfalt vielmehr lernen, mit Unterschieden konstruktiv umzugehen?
H.E.: Die Schere zwischen arm und reich hat sich viel zu sehr geöffnet bei uns, aber auch weltweit. Das müssen wir dringend ändern, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu bewahren und wieder zu stärken. Kulturelle, ethnische, weltanschauliche Vielfalt dagegen ist Reichtum, wir müssen sie entfalten, kreativ nutzen, keinesfalls zwangsweise einschränken. So machen wir das Zusammenleben im globalen Dorf lebenswert. Davon handelte übrigens auch die documenta fifteen.
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W.K.K.: Kann Kultur dabei helfen, diese Widersprüche und Spaltungen zu überwinden? Ist es überhaupt Aufgabe von Kunst, gesellschaftliche Wunden zu heilen oder wäre diese Erwartung nicht vielmehr eine heillose Überforderung? Oder sollte Kulturpolitik unter Umständen sogar mehr Gewicht in der politischen Landschaft haben?
H.E.: Bei Kunst und Kultur geht es um den kreativen Umgang mit Widersprüchen. Eine von diesem Verständnis geprägte Kulturpolitik sollte eine viel größere Rolle in unserem Zusammenleben spielen. Aber überstrapazieren darf man seine Erwartungen an ihre glück- und friedensstiftende Wirkungen nicht.
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W.K.K.: Wir bedanken uns bei Ihnen für das Gespräch.
Nachstudie zur documenta fifteen
6. bis 8. Dezember 2022
Zweieinhalb Monate nach Ende der documenta, vom 6. bis 8. Dezember 2022, hat Achim Müller vom IKMW Berlin Kassel noch einmal für eine Feldforschung besucht: Was ist von der documenta fifteen geblieben?
Gefragt wurde sowohl an den zentralen Orten der Documenta Fifteen, dem ruruHaus und dem Friedrichsplatz, als auch an „Außenspielstätten“: am „Kulturbahnhof“, an der Holländischen Straße, am Wesertor, in Bettenhausen und beim Bootshaus Ahoi. Die spontanen offenen Interviews richteten sich auf zwei grundlegende Fragen: Was von der documenta fifteen positiv wie negativ in Erinnerung geblieben war und welche Bedeutung die Documenta insgesamt für das Leben der Befragten und Kassel hat. Für eine einfache soziokulturelle Einordnung wurden auch danach gefragt, was die Befragten am liebsten in ihrer Freizeit taten.
Bei der Auswahl der Befragten wurde darauf geachtet, Menschen verschiedener Altersgruppen, verschiedenen Geschlechts und unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit anzusprechen. Dokumentiert wurden auch abgelehnte Gespräche, um ein vollständiges Bild von der Resonanz der Documenta bei Menschen im öffentlichen Raum von Kassel zu dokumentieren.
Dienstag, 6. Dezember 2022
Vor dem ruruHaus
M/58 J./Kassel/Mittlere Reife
M: Und wenn ich mir das angucke, da muss man wirklich mal die Mitglieder von diesen alten Schuldkomplexen mit dem Nationalsozialismus… Und wenn das da der August Bode wüsste, der die geschaffen hat. Ich kenne seine Nachkommen, die in Kassel wohnen, in Wilhelmshöhe. Das ist nicht das, was er gewollt hat. Und wenn documenta, dann hier. Nicht in Griechenland oder wo. Der August hat das hier gemacht. Und nicht so ein Pipifax. Das ist nichts. Und das kostet euch in den nächsten fünf Jahre eine Menge Leute. Weil die Leute es satt haben. Es gibt genug Theater in der Welt, und dann braucht man das nicht. Wenn man sich Kunst angucken will, dann braucht man das nicht. Dann muss man früher gucken, wenn man da holt, und dann muss man besprechen. Denn ich denke ja, dass die ausstellenden Künstler eingeladen werden. Dann kann es ja nicht sein, dass die einen mit den Palästinensern, der eine mag keine Juden – Pipifax; Kinderkram. Erwachsen werden. Kunst machen, ausstellen, und gut.
I: Was machen Sie sonst in Ihrer Freizeit am liebsten?
M: Ich bin Rentner, ansonsten Fußball. Ein bisschen Feuerwehr. Und Musik, Musikfestivals
Verweigerung:
Weihnachtsmarkt Friedrichsplatz
F und F/20-30 J., slawischer Akzent
Wollten die documenta zwar sehen, haben sie dann aber nicht besucht – nach Aussage einer der beiden Frauen, weil die Tickets zu teuer waren.
Weihnachtsmarkt Friedrichsplatz
F1 und F2/70-80 J./Kassel/Mittlere Reife
F1: Das ist die documenta gewesen, eine Kunstausstellung, und da müssten sie es alles lassen. Das kann man so sehen und so sehen. Wo man dann auch noch auf solche Sachen achten soll. Nee, das hat mit documenta nichts mehr zu tun, mit Freiheit. Fand ich nicht so gut.
I: Hatten Sie andere documentas schon gesehen?
F1: Ja, hatte ich. Immer. Der Beuys … das fand ich besser. Immer da gewesen. Aber das hat mir nicht, hat mir gar nicht … dass sie alles abgemacht haben, abgebaut haben.
F2: Ja, und manche Sachen haben sie ja gekauft, und sind geblieben.
F1: Was haben sie denn gekauft? Ja, gar nichts. Ich weiß nicht, den Obelisk haben sie ja damals gekauft, beim letzten Mal.
F2: Da am Hauptbahnhof, dieser… wie nennt es sich denn? Der auf dem schrägen… der hat einen bestimmten Namen.
F1: Der hat ja in der Aue gestanden. Viele Sachen, die schön waren. War OK. Aber jetzt, dass da so ein Streit, documenta und so ein Streit, zwischen den Künstlern.
Weihnachtsmarkt Opernplatz
M/28 J./Kassel/Mittlere Reife
I: Sie sagten, es war nicht so gut. Haben Sie Sachen gesehen auf der documenta?
M: Nee, dieses Jahr mag ich nicht. Es war halt nicht wie die letzten documentas in Kassel waren. Durch diese politische Sache auch, die dazwischengekommen ist. Das hat mich einfach genervt und das habe ich einfach nicht akzeptiert. Deswegen habe ich die documenta dieses Jahr ausgelassen.
I: Die davor haben Sie Sich angesehen?
M: Ja, habe ich mir angesehen. Das fand ich auch viel schöner. Dieses Jahr wurden ja nicht so Sachen aufgebaut, die … Bei den letzten documentas waren halt Sachen, die viel schöner waren, und interessanter waren.
I: Was machen Sie sonst am liebsten in Ihrer Freizeit?
M: In der Freizeit Sport, Fußball.
Weihnachtsmarkt Opernplatz
F/58 J/Kassel/Hochschulabschluss
I: Was ist Ihnen denn von der documenta in Erinnerung geblieben?
F: Viel, viel mehr Auseinandersetzung als sonst, im negativen Sinne. Die, wie ich fand, fatale Kampagne zum Antisemitismus, die man für einen Dialog hätte nutzen können – was ja ruangrupa und die Kollektive gewollt haben. Ich finde, es ist eine documenta der vertanen Chancen.
I: Hatten Sie vorher schon andere documentas gesehen?
F: Ja, natürlich. Kassel ist meine Wahlheimat, und deswegen immer wieder.
I: Wie sehen Sie grundsätzlich die Bedeutung der documenta für Kassel?
F: Das ist so das, wenn man international unterwegs ist, was Menschen, die Städte kennen, die größer sind als 200.000 Einwohner, überhaupt mit Nordhessen verbinden. Das ist das, was uns in die Welt trägt. So sehe ich das.
I: Was machen Sie sonst am liebsten in Ihrer Freizeit?
F: Ich bin sehr gerne unterwegs, in Kassel, um Kassel herum und auch ein bisschen weiter. Ich bin ein bisschen ökologisch, deswegen in Europa unterwegs. Ich treffe mich sehr gerne mit anderen Menschen, mit Freunden, und liebe es, dann zu kochen.
Verweigerung:
Weihnachtsmarkt Friedrichsplatz
M und M/30-40 J. und M und F/30-40 J.
Zwei junge Männer und ein junges Paar bleiben kurz stehen, haben aber die documenta nicht besucht und auch keine wirkliche Vorstellung davon, was die documenta ist.
Verweigerung:
Weihnachtsmarkt vor dem ruruHaus
F/40 bis 50/
Hat diese documenta – anders als vorherige – nicht besucht und will nicht interviewt werden.
Weihnachtsmarkt vor dem ruruHaus
M/28 J./Kassel/Hochschulabschluss, F/26 J./Kassel/Hochschulabschluss
I: Was ist von der documenta fifteen in Erinnerung geblieben?
M: Falscher Umgang, finde ich. Mit dem Gemälde, mit der Debatte um Taring Padi – finde ich den falschen Umgang. Gerade in Deutschland. Dass man es eher cancelt als im Raum zu diskutieren. Das wäre so mein Eindruck. Haben wir heute schon in der Stadt drüber gesprochen. Wenn man Sachen wiederherstellt, ist es, als wär’s kaschiert. Wenn man’s weghängt, ist es, als wär’s kaschiert.
F: Ich fand, das hing auch wie eine große graue Wolke über allem. Das ist auch, was mir immer noch in Erinnerung geblieben ist. Wir haben viel mit Studierenden zu tun, weil wir an der Uni arbeiten, und wenn man mit denen spricht, die neu nach Kassel gekommen sind: Da haben viele gesagt, sie seien bewusst nicht zur documenta gegangen.
I: Hatten Sie schon andere documentas besucht?
F: Ja.
M: Ich nicht.
F: Ich kenne die davor. Vielleicht was positives: Ich finde, dass die jetzige documenta weniger finanziell wirkte als die davor. Mehr kollektive Gedanken, mitmachen
M: Mehr mit dem Fokus auf einer kollektivierten Kunst aanstatt einer avantgardistischen, die so abgekapselt ist, für bestimmte Gruppen, die Geld haben. Es war viel niedrigschwelliger.
F: Auch weniger den Wert als Kunst, sondern Kunst als Happening. Aber auch gesellschaftliche, politische, kulturelle Themen aufgearbeitet, nicht einfach nur Ästhetik. Was ich auch gut fand, war der Standort im Kasseler Osten. Dass das auch stärker in das Stadtgeschehen eingebunden werden muss. Dass die da angefangen haben, Orte aufzuzeigen, mit denen man sich in den nächsten Jahren beschäftigen sollte.
I: Was machen Sie sonst am liebsten in Ihrer Freizeit?
F: Wir sind Architekten und Architektur Studierende. Unsere Freizeit bestimmt die Architektur.
M: In letzter Zeit viel Kino. Viel in den Programmkinos hier. Die brauchen ja auch Unterstützung.
Am Obelisken
M/67 J./Kassel/Mittlere Reife
I: Was ist von der documenta fifteen in Erinnerung geblieben?
M: Ich weiß nicht, wie die Kirche heißt, an der Leipziger Straße. Kunigundis-Kirche. Da war ich ziemlich beeindruckt. Also, die ganze documenta hat mir gut gefallen. Auch dass da für Kinder, dass da mal ein Spielplatz war. Das war ganz gut.
I: Hatten Sie andere documentas gesehen?
M: Ja, habe ich schon. Es ist schon die dritte oder vierte. 20 Jahre bin ich ungefähr hier, also die vierte documenta.
I: Und welche Bedeutung hat die documenta aus Ihrer Sicht für Kassel?
M: Ja, ich finde gut, dass das hier so ein Künstlerstandort ist und dass das alles organisiert wird von hier aus. Und ich finde, das Interesse ist da auch rege. Das organisieren immer irgendwie andere. So weit.
I: Was machen Sie sonst am liebsten in Ihrer Freizeit?
M: Ich bin Rentner, am liebsten gehe ich spazieren. Höre Musik.
Gesammelte weitere Verweigerungen vom 6. Dezember 2022
Am RuruHaus
- Zwei slawische Frauen – keine Zeit
- Nettes junges Paar von rechts nach links, auch keine Zeit
- Viele Menschen, die sich gar nicht ansprechen lassen, verschlossen herumlaufen oder mich ignorieren
Weihnachtsmarkt beim Karussel (Friedrichsplatz)
- Zwei junge Männer mit Akzent, 20-30, sehr freundlich, sagen erst, dass ihr deutsch schlecht sei, dann aber, weil sie die documenta nicht besucht haben
Weihnachtsmarkt beim Weihnachtsmann (Opernplatz)
- Dreiergruppe, zwei Männer und eine Frau, einfach, zwischen 30 und 40, haben die documenta nicht besucht
- Einzelner migrantischer Mann, mit Glühwein, hat zwar ein paar Sachen gesehen, will sich aber nicht darüber unterhalten, weil er sich mehr für Fußball interessiere
Mittwoch, 7. Dezember 2022
Leipziger Straße, Bushaltestelle vor dem Hallenbad Ost
M/20-30 J./Kassel
I: Was ist von der documenta fifteen in Erinnerung geblieben?
M: Dass ich Schwierigkeiten hatte, aus dem Bett zu kommen, auch zum Arbeiten. Aber an und für sich ist es nicht schlecht gewesen. Aber die Musik von hier war ziemlich laut. Das hätten sie ein bisschen leiser machen müssen.
I: Haben Sie Sich auch etwas angeschaut?
M: Ja, ich hab mal da und mal da geschaut. Also schlecht war’s nicht, muss ich sagen. Viel Spaß gehabt.
I: Haben Sie Sich andere documentas schon angesehen?
M: Nein, noch nie, ehrlich gesagt
I: Hat es für Sie irgendeine Bedeutung, dass es die documenta gibt?
M: Ehrlich gesagt: Leider nein.
Hallenbad Ost
M/49 J./Kassel/Hochschulabschluss
I: Was ist für Sie von der documenta geblieben?
M: Bei uns am Ort ist natürlich auch ein bisschen so der Spirit geblieben. Wir hatten gestern hier eine Kunstausstellung von dem Saki, das ist einer von dem Sobat Sobats gewesen. Das poppt immer wieder auf, das Thema. Da wird natürlich auch gewitzelt. Ich bin ja jetzt auch Kurator, und dann so: „Hast Du denn auch geguckt, ob da jetzt Antisemitismus auf dem Bild, in der Bildsprache, zu finden ist?“ Das ist jetzt ein Witz. Nein, das Thema hängt natürlich von der d15 noch nach. Leider. Aber auf der anderen Seite haben die Kollegen dieses Bild hier vergessen. [lacht] Wir haben es mal hier hingehängt, und würden es auch sofort abgeben. Aber vielleicht ist es ja auch eine ganz nette Anekdote. Passt auch wunderbar hierher. „Die Wasser des Lebens“ oder so, so heißt das ungefähr. Was haben wir sonst noch hier am Ort? Wir haben hier diesen „Reflecting Point“, was ja so eine Parallelarbeit vom Bund der Architekten war, das steht immer noch. Gestern zum Beispiel ist ein Besucherin, eine Kunstliebhaberin, angekommen und hat gesagt: „Wir haben ein documenta-Kunstwerk, [Name des Werks], hieß das glaube ich, das wollen sie auf einem Privatgrundstück aufbauen, und die brauchen einen Bauantrag für einen Schuppen. Solche Begegnungen und Anekdoten.
I: Sie sagen, sie hätten gestern noch darüber gewitzelt. Wie stark sind denn diese Debatten noch in den Köpfen?
M: Also in Kassel war ja immer das Verhältnis ein bisschen anders zu dem Thema, als es bundesweit debattiert worden ist. Wir haben uns eher, schon während der documenta, angeguckt: Was nimmt denn die Auslandspresse eigentlich wahr. Und da ist ja gerade letzte Woche auch rumgegangen in den Social Media, dass ruangrupa in New York auf dem ersten Platz beim wichtigsten Influencer auf dem Kunstmarkt – ich weiß nicht so genau. Aber sowas wird natürlich diskutiert. „Wir haben es ja immer schon gewusst.“ Und wir standen ja auch immer – „wir“ heißt die Kasseler Kunstszene … Ich glaube, dass da nicht allzu viele an der Intention von ruangrupa gezweifelt haben. Dass da einige Bilder sehr unglücklich waren, das steht außer Frage. Das ist immer noch in Gesprächen immer wieder mal Thema. Es gibt ja verschiedene Initiativen, die sich auch im Jahresrückblick damit beschäftigen. Ob man da eine Jahresabschlussveranstaltung hier im Haus macht, oder der Runde Tisch der Kasseler Kulturgesellschaft, da wird das auch aufgearbeitet, darüber gesprochen. Das ist im Moment noch Thema. Ich bin gespannt, wie das im Rückblick in drei, vier, fünf Jahren aussieht. Ob dann sich dann die Meinung von außen, dass wir es übertrieben haben mit dem Thema Antisemitismus, dass es eigentlich viel wichtigere Themen gab auf der documenta, die leider sehr in den Hintergrund geraten sind – das wird sich hoffentlich durchsetzen.
I: Ich bin gerade dabei, hier einen Rundgang zu machen: St. Kunigundis, Sandershaus, Hübner Areal, hier. Haben Sie den Eindruck, dass das hier vor Ort, bei den Menschen, die hier leben, etwas verändert hat?
M: Also bei den Kulturschaffenden vielleicht, hier rundrum – Sandershaus, Agathenhof weiter hinten. Bei den Bewohnern kann ich die Frage nicht beantworten. Weiß ich nicht. Muss ich passen.
Verweigerung:
Bettenhausen Dorfplatz
M und F/20-30 J.
Bleiben kurz stehen. Beim Wort „documenta fifteen“ sagt der junge Mann mit Kapuzenpulli „Oh, bitte nicht!“ und geht wütend weiter.
Bettenhausen Dorfplatz
M/ca. 30 Jahre, F/ca. 50 Jahre/beide aus Kassel, beide scheinbar obdachlos.
I: Was ist Ihnen denn in Erinnerung geblieben von der documenta fifteen?
M: Also, ich habe mit die documenta fifteen an der … am Hallenbad Ost. So eine Art Naturkundemuseum war das. Das war mehr über historische Gesellschaften. Über frühere, von älteren Generationen, die vor uns gelebt haben. So eine Art Neandertaler. So was in der Art. Das habe ich mir angesehen. Auch so ein Art indianisches Gebäude war da, aus Holz. Da waren auch Musiker, die haben da Musik gespielt.
F: Genau, unser Kollege, hier. Der [Name], mein Kollege hier, aus [Land], der spielt wunderbar [Instrument], der spielt ohne Noten. Der war früher Orchesterchef, hier [Name Band], ist leider obdachlos, unser [Name], der schläft heute da, morgen da. Keine Wohnung. Platz verloren, Katastrophe. Aber wir wollen über die documenta sprechen. Ich war auch da, Hallenbad Ost. Da waren diese Pappfiguren, interessant. Alle Nationalitäten. Musste erst mal sehen: Was ist das hier? Türkisch, und chinesisch. Hier, Kung Fu Fighting. Es war recht interessant. Ich war dort wegen meinem Kollegen. Der hat wunderbar Geld gemacht. [Musikstück] spielt der. Publikum hat angebissen. Der hat Geld gemacht, 20 Euro und noch mehr. Da haben wir uns was gekauft. Zu essen und was man so braucht. Das wär’s dann von der documenta.
Verweigerung:
Vor der Kirche St. Kunigundis
M/40 – 50J./starker Akzent, vielleicht nordafrikanisch, vielleicht aus dem Nahen Osten
Freundlich, wollte aber nicht aufgenommen werden. Sagt sofort: „Die schlimmste documenta. Die Bilder, die die hier gezeigt haben…“ [zeigt auf St. Kunigundis]. Wohnt in Kassel, hat schon viele documentas gesehen. Tenor: „Früher, in der Innenstadt … alles viel schöner. Überall Sachen. Und diesmal – ich weiß nicht, was sich die Politiker dabei gedacht haben. Alles ganz furchtbar.“
Tankstelle am Sandershaus
M/50 bis 60/starker Akzent
I: Was ist von der documenta fifteen im Sommer in Erinnerung geblieben?
M: Die hier auch gewesen ist? Das Problem ist: Ich war gar nicht dabei. Wo arbeiten in drei Schichten, keine Zeit. Also ich war gar nicht da, aber ich glaube, war gut. Meine Frau war glaube ich ein paar Mal da. Aber sonst, ich war nicht da. Keine Ahnung, das ist die Wahrheit. Weil, wenn Du arbeitest drei Schichten, hast Du keine Zeit. Ich musste das Wochenende auch arbeiten, und dann Katastrophe. Aber es gibt Leute, die haben das mitgemacht, gesehen. Was ist neu, was sich verändert. Aber ich nicht. Du weißt ja, heute ist es schwierig. Deinen Job behalten, zum Leben. Schwierig.
I: Hätten Sie es Sich gerne angesehen?
M: Ja. Vor jetzt drei Jahren, früher. Da ich habe frei gehabt, da war die Firma… Im Sommer. Das ist das Problem im Sommer. Entweder arbeitest Du oder bist Du zuhause. Und da war was gekommen, ich hatte was mit Füßen, und ich war zuhause. Aber ich konnte laufen, ich konnte gehen, wo ich will. Da ich war überall. Jetzt vor vier, dreieinhalb Jahren. Da war ich überall, Friedrichsplatz, überall. Das war gut gewesen. Aber dieses Jahr war es komisch. Das weißt Du auch, brauche ich Dir nicht zu sagen. Wenn Du keine Zeit hast, Früh, Spät, Nacht, drei Schichten. Das ist nicht eine Woche – eine Woche, dass ist alle zwei Tage. Zwei Tage früh, zwei Tage spät, weißt Du. Da kommst Du nicht. Deswegen wirklich, ich habe das gar nicht mitgekriegt.
I: Aber ist es trotzdem gut, dass es das gibt?
M: Natürlich! Man lernt. Neue Erfahrungen! Wie Ökologie – wie wechselt … Wie Du sagst. Dieses Jahr… Aber wie meine Frau sagt: Das hat sich nicht so 100% verändert. Das ist ein bisschen ähnlich geblieben. Ein bisschen vielleicht, so ein großer Unterschied ist nicht. Hier habe ich das gesehen: Manchmal rede ich mit dem, der hat das gesehen. Der hat gesagt: Vielleicht 10% geändert. Ich verstehe auch nicht so viel von diesen Sachen. Wie soll ich Dir sagen? Es ist schwierig.
Aber wenn Du hier suchst nach Erfahrungen, es ist auch schwer, hier Leute zu kriegen. Hier, siehst Du, ist Katastrophe. Hier sammeln sich nur Autohändler, die Schrott machen. Keiner interessiert. 100%. [lacht] Deswegen, Leute, die das gesehen haben – ich kann Dir nicht versprechen. So richtig: Wer hat mitgemacht? Das kann ich Dir nicht sagen.
In dieser Zeit ist es schlimm geworden. Alles teuer geworden. Man macht seinen Job, Geld bleibt oder nicht bleibt. Wir haben Kurzarbeit. Katastrophe. Und deswegen hast Du kein richtiges Interesse für neue Sachen. Du musst erstmal klarkommen, mit Deinem Leben. Jetzt hast Du das, das, das… vielleicht Urlaub. In Deinem Kopf hast Du immer: wie soll ich das finanzieren. Das lässt die Menschen nicht, wie Du sagst, schön in Ruhe: Mal sehen, mitmachen, alles sehen.
Aber die Leute, die dabei sind. Ich glaube, die meisten von außen. Von Kassel vielleicht – meine Meinung – 10%, vielleicht 15%. Wie hab ich das mitgekriegt? Ab und zu gehe ich hierher zum Tanken. Da war es jeden Tag voll mit Leuten. Das merkst Du sofort, das sind Fremde. Aber das war richtig voll. Von Montag bis – ich glaub, das geht bis Sonntag abend. Die haben sich überall gesammelt hier, aber ich glaube, von Kassel wenig. Die sind alle von außen. Berlin, Mannheim, Stuttgart, Leipzig, überall. Aber aus Kassel ich glaube 10%. Weil Leute haben Probleme mit Leben. Hier die meisten Hartz IV, wenige Jobs. Du hast zwar einen Job, aber trotzdem kannst Du keine Familie ernähren. Da musst Du wieder Staat. Papier ausfüllen. Monatsrechnung schicken. Abwarten. Stressig. Diejenigen, denen es gut geht: Ich glaube, die haben das mitgemacht. 100%. Hier aber… kann man nichts ändern. Wie kannst Du die Lösung suchen? Schwierig. […] Dahin oder gehen wir lieber einkaufen. Da siehst Du, was da läuft: Deswegen haben die Leute kein Interesse zur documenta, oder irgendwas neues. Hauptsache Essen, dass man auf seine Reihe kommt. Wenn man Ruhe hat, und wenn ich versuche – wie Du sagst, es ist documenta, oder irgendwas mit Wissenschaft. Ich sag nur, das interessiert mich, aber ic habe keine Ruhe. Das heißt: Auch wenn Du das mitmachst, reagierst Du nicht so.
Gehweg vor dem Bootshaus Ahoi
M/36 J./Kassel/Hochschulabschluss
I: Was ist Ihnen von der documenta in Erinnerung geblieben?
M: In Erinnerung – die vielen Menschen, die hier im Viertel waren und das Viertel belebt haben. Der Lumbung-Gedanke, also dieses Miteinander. Das lebhafte Kunst-Erleben, wenn ich das mal… also, dass viele Veranstaltungen waren. Viele Zusammenkünfte, sage ich mal. Also es war richtig viel los, das ist mir in Erinnerung geblieben. Es war sehr freundlich, und … wie soll ich sagen … so auf Augenhöhe. Ich hatte selbst ein bisschen damit zu tun und hatte auch direkten Kontakt mit den Kuratoren. Das war sehr nett.
I: In welchem Rahmen?
M: Wir sind an der [Unternehmen] und hatten da ein paar Aufträge für die documenta, haben aber auch einfach Freundschaften geschlossen mit den Künstlern.
I: Hatten Sie auch schon andere documentas gesehen?
M: Ja, die davor und die davor. Also die 13 und 14.
I: Welche Bedeutung hat das insgesamt für Sie, die documenta in Kassel.
M: Insgesamt, nicht nur für diese? Ich würde schon sagen, dass das eine Bubble ist. Das ist schon, sage ich mal, dass nicht alle Kasseler daran partizipieren, aber ich würde schon sagen: Dass für die Stadt, die ja nicht so super viel bietet ansonsten, die documenta schon ein riesiger Gewinn ist. Ich finde das sehr sehr wichtig. [unverständlich wegen Nebengeräuschen] Ich finde es immer schön, wenn viel im Außenbereich stattfindet. Das fand ich … Ich hätte mir noch ein bisschen mehr in der Aue gewünscht, im Aue-Park. Da fand ich es ein bisschen wenig. Da finde ich es immer schön, wenn da viel – weil es ja auch im Sommer stattfindet – draußen stattfindet.
I: Was machen Sie sonst in Ihrer Freizeit am liebsten?
M: Sport. Und Musik. Singen.
Verweigerung:
Neben dem Flic-Flac-Zelt
F/25 – 35J.
Scheinbar polnischer Akzent, verstehen und sprechen so schlecht Deutsch, dass sie nicht interviewt werden sollten.
Verweigerung:
Weihnachtsmarkt
M/50 – 60J.
Spricht nach eigener Aussage nicht genug deutsch, um sich befragen zu lassen.
Weihnachtsmarkt
M/76 J./Jesberg/Mittlere Reife
I: Was ist Ihnen in Erinnerung geblieben von der letzten documenta?
M: Vor allem diese Plakatwand mit diesen Riesenskandalbildern.
I: Haben Sie die noch gesehen?
M: Ja klar, ich war ziemlich am Anfang da.
I: Und wie haben Sie das Abhängen und die Diskussion darum wahrgenommen?
M: Na, ich betrachte es als künstlerische Freiheit und ich würde sagen, da sollte man nicht so empfindlich drauf reagieren. Meine Meinung.
I: Hatten Sie schon andere documentas gesehen?
M: Vorher? Ja, schon.
I: Aus Ihrer Sicht: Welche Bedeutung hat die documenta insgesamt für Sie und für Kassel?
M: Ich bin gerne unterwegs normalerweise. Ich hatte aber dieses Jahr im Sommer wenig Zeit, weil ich gesundheitliche Probleme hatte, deswegen nur ein so kurzer Aufenthalt.
I: Was machen Sie sonst am liebsten in Ihrer Freizeit?
M: Ich bin sehr viel am Computer, lese viel und gucke auch relativ viel fern. Mache auch lange Wanderungen durch den Wald.
Verweigerung:
Weihnachtsmarkt
M und W/beide 40 – 50J.
Wollen nicht bei ihrem Gespräch gestört werden.
Verweigerung:
Vor der Handwerkskammer
W/40 – 50J./ Kassel
Sagt, dass sie keine Ahnung von der documenta habe, die documenta noch nie gesehen habe. Musste die documenta immer mit der Schule besuchen und hat jetzt überhaupt nichts dafür übrig. Seitdem nicht da gewesen, deswegen auch nicht bei der documenta fifteen.
Werner-Hilpert-Straße, vor dem Hauptbahnhof
M/29 J./Kassel/Abitur
I: Was ist denn hängengeblieben von der documenta?
M: Ich bin nicht so derjenige, der in die Orte reingeht, ich gucke mir immer vor allem die offen stehenden Exponate an. Ich bin häufig am Rondell spazieren gegangen, bei dieser Installation im Wasser, und dem Gemälde, was bei dem Wasser hing. Das ist mir so spontan noch in Gedächtnis geblieben. Und natürlich, ein bisschen übergeordnet, der ganze juristische Presse-Sprech, der diesen Sommer über die documenta veröffentlicht wurde. Da war ja viel Nebenschauplatz der documenta, was es dieses Jahr auch gab.
I: Und haben Sie die documenta insgesamt als positiv oder negativ wahrgenommen?
M: Also das, was am Ende noch zu sehen war, fand ich jetzt nicht schlecht – also es war nicht negativ. Generell wird diese documenta nicht unbedingt als Pluspunkt gewertet, tatsächlich. Es wurde viel diskutiert. Dann wurde noch diskutiert, sie sollte abgesagt werden oder in Zukunft nicht mehr stattfinden. Ich glaube, es ist ganz gut, dass sie gesagt haben, wir machen es auf jeden Fall weiter. Aber es war definitiv kein gutes Jahr für die documenta.
I: Hatten Sie andere documentas schon gesehen?
M: Ja, vor fünf Jahren war ich schon mal hier, seitdem bin ich in Kassel.
I: Und was ist Ihr Eindruck, welche Bedeutung hat die documenta für das Leben in Kassel?
M: Da fällt mir spontan nichts zu ein. Es ist so: Die documenta ist eher so ein passiver Effekt. Man würde eher bemerken, wenn die documenta nicht mehr da wäre. Und zwar nicht durch das Jahr selber, wo keine documenta stattfindet, sondern einfach dadurch, dass in den anderen Jahren auch nicht viel gemacht wird. Ich glaube, die documenta hat erstmal einen positiven Effekt auf Kassel, und an Veranstaltungen, die dann auch da sind. Das nochmal anfügend, was hängenblieben ist: Mir fällt immer auf, wenn documenta-Sommer ist, wie viel für Besucher noch frei gemacht wird. Dann ist hier noch ne Veranstaltung, ne Ausstellung, die frei gemacht wird, wo man sich nett zusammensetzen kann. So etwas kommt auch immer gerne durch die documenta. Das fehlt Kassel sonst tatsächlich.
I: Was machen Sie sonst am liebsten in Ihrer Freizeit?
M: Ich bin tatsächlich sehr viel gerne am Computer, ich fahre gerne draußen mit dem Fahrrad, und ab und zu gehe ich mal klettern.
Straßenbahnhaltestelle vor Trafohaus
W/31 J./Kassel/Mittlere Reife, Krankenpflegerin
I: Was ist denn in Erinnerung geblieben von der documenta?
W: Leider war ich nicht da im Sommer. Eine Woche oder so. Ich war in Mannheim.
I: Und haben Sie von der documenta etwas mitbekommen?
W: Eigentlich nicht.
I: Wohnen Sie in Kassel?
W: Ja.
I: Hatten Sie von früheren documentas etwas mitbekommen?
W: Ich glaube … Nein. Über meine Arbeit – Foto – meine Kolleginnen, ja. Aber ich nicht.
Verweigerung:
Straßenbahnhaltestelle vor Trafohaus
M/20 – 30J./Szene-Sportkleidung, vielleicht Transgender
Weist Ansprache brüsk ab.
Donnerstag, 8. Dezember 2022
Stadtteilzentrum Weserstraße
M/32 J./Kassel
I: Was ist denn so von der documenta geblieben?
M: Na, ich habe ja auch Bänke und so gestaltet hier. Und es ist ja auch nicht mehr viel übrig von der documenta hier. Das wurde alles wieder abgebaut, weggemacht, weggeräumt. Viel kann ich nicht dazu sagen.
I: Sie sind Teil von dem Team hier?
M: Ja, genau.
Stadtteilzentrum Weserstraße
M / 29 J./ Kassel/Mittlere Reife
I: Was ist denn so in Erinnerung geblieben von der documenta?
M: Viele Sachen, nicht so gute Sachen. Ganz viele rechtsradikale, antisemitische Äußerungen. Hier in Kassel sehr extrem. Das ist auch für mich hier in Kassel sehr extrem.
I: Also nicht nur von der documenta, sondern insgesamt.
M: Ja, genau. Ich finde, mit der documenta ist es auch nochmal ziemlich deutlich geworden, was Kassel davon hält und wie es sich da positioniert. Was ich echt schade finde, weil ich sie mir gerne angeguckt hätte, aber ich dann für mich gesagt habe: Das sind Gründe, das nicht zu unterstützen.
I: Sie haben die documenta dann auch selber gar nicht besucht, auch nicht die Sachen, die hier nebenan waren?
M: Also hier nebenan tatsächlich… da drüben waren immer Veranstaltungen, die kriegt man dann ja auch immer mit. Hier war das immer OK. Hier ist ein geschützter Rahmen, hier würde so etwas auch gar nicht akzeptiert. Das waren schon schöne Veranstaltungen, auch die Leute, die hier waren, auch da hinten im Hofgarten.
I: Hatten Sie vorherige documentas schon mitbekommen?
M: Ja, bei der vorherigen documenta war ich da, da war ich auch selber ein Teil eines Ausstellungsprojektes, da ging es auch um Kassel, um viele unterschiedliche Menschen aus unterschiedlichen Herkünften, auch transsexuell zum Beispiel. Da wurde ich gefragt, ob ich mich mit Bildern, also den Entwicklungsweg … das war eigentlich gar nicht schlecht, da habe ich mich gefreut, dass es dieses Jahr wieder… aber…
I: Wenn Sie das insgesamt betrachten: Können Sie sagen, welche Bedeutung die documenta in Kassel oder auch für Sie, in Ihrem Umfeld, hat?
M: Weiß ich nicht. Kann man ja jetzt nicht sagen. Man weiß ja auch nicht, ob das jetzt noch mal hier stattfindet. Eher ja nicht. Was ja nachvollziehbar ist, was ich sehr traurig finde, weil sich Kassel sehr gut dafür geeignet hat.
I: Was machen Sie sonst am liebsten in Ihrer Freizeit?
M: Musik.
Waschcenter am Wesertor
M/ 23 J. /Kassel/Hochschulabschluss
I: Was ist denn von der documenta in Erinnerung geblieben?
M: Leider bin ich erst im November hierhergezogen, deswegen bin ich nicht zur documenta gegangen. Aber ich weiß [kenne] die Institution der documenta, und es ist sehr schade für mich, dass ich die documenta nicht mehr sehen kann.
I: Was für ein Bild haben Sie aus den Sachen, die Sie gehört haben? Was für ein Bild von der documenta ist für Sie entstanden?
M: Ich habe gehört, dass die documenta eine große Ausstellung ist, wo viele Leute ihre Meinungen und Werke mitteilen. Für politische Meinungen und Kultur, auch für Diskussionen über Städte und über den Menschen. Das ist, was ich gehört habe.
I: Was machen Sie am liebsten in Ihrer Freizeit?
M: In der Freizeit mag ich ins Fitnessstudio zu gehen, Filme schauen, ich gehe oft in den Filmpalast, und Musik hören. Und ich mag Kochen.
Am Wesertor
M/60 bis 70 Jahre/Kassel
Verweigert die Aufnahme des Gesprächs, gibt dann aber ein längeres Interview.
Sagt, dass er diese documenta aus politischen Gründen weitgehend boykottiert habe – weil er der Meinung war, dass man die antisemitischen Karikaturen nicht hätte zeigen dürfen. Dass der Umgang anders hätte sein müssen. Ruangrupa selbst nimmt er in Schutz: Aus seiner Sicht seien das Indonesier, die wahrscheinlich unseren Umgang mit Antisemitismus, den wir aus unserer Geschichte haben und haben müssen, nicht kennen können. Aber man hätte es aus dieser Geschichte sowohl vor der documenta als auch nach Beginn der documenta handhaben müssen, die Diskussionen offensiver führen müssen. Er glaubte auch den Besuchszahlen nicht, er hatte auch im Vergleich mit früheren documentas den Eindruck, dass deutlich weniger Menschen, vor allem aus dem Ausland, in seinem Umfeld am Wesertor waren. Er war sehr dezidiert: In Indonesien, das ist ein anderes, ein muslimisches Land. Andere Themen, andere Sensibilisierung, auch andere Geschichte mit dem Antisemitismus als in Deutschland – er kenne das Land nicht und könne das nicht einschätzen. Aber in Deutschland würde er solche Dinge aber eben nicht sehen wollen, und darauf hätte man klarer, eindeutiger und direkter reagieren müssen. Ruangrupa seien überrumpelt von dieser Diskussion, sieht Verantwortung bei Claudia Roth, die aus seiner Sicht zu spät reagiert habe.
Außerdem wünscht er sich eine bessere Streitkultur in Deutschland. Mehr Austausch, mehr kontroversen Austausch auf Augenhöhe.
Er spricht sich auch gegen Politisierungen aus. Aus seiner Sicht war es eine „schräge“ documenta, die so stark politisiert gewesen sei. Aber er sehe das auch insgesamt, alles sei politisiert, er spricht auch Fußball an. Man wolle vielleicht mal wieder Kunst sehen oder Fußball, ohne eine politische Metadebatte dazu – das würde er sich auch für die documenta wünschen.
Verweigerung
Vor Berufsschule am Wesertor
M1 und M2/knapp 20/Berufsschüler
Haben von der documenta nichts gesehen, weil sie nicht aus Kassel kommen.
Verweigerung
Zeughausstraße
M/Ende 40
Ist heute zum ersten Mal in Kassel und kann mir nichts zur documenta sagen.
Verweigerung
Untere Königsstraße
M und F/60 bis 70 J.
Schlecht gelaunt, zögert kurz, M grummelt: „Ah die wollen was wissen.“ und geht weiter.
Verweigerung
Untere Königsstraße
M1 und M2/20 bis 30 J.
Gut gelaunt spanischsprechend, antworten fröhlich „No entiendo.“ und ziehen weiter.
Verweigerung
Königsplatz
F1 und F2/20 bis 30 J.
Zwei junge Frauen mit Kindern auf dem Weihnachtsmarkt, wollen nicht beim Glühweintrinken gestört werden.
Verweigerung
Friedrichsplatz
F/50 bis 60 J.
Frau am Rande des Weihnachtsmarkt mit „schicken“ Einkaufstüten; murmelt etwas von „keine Zeit“, kramt in den Einkaufstüten und dreht sich um.
Verweigerung
Friedrichsplatz
M und F/25 bis 35 J.
Ehepaar mit Migrationshintergrund, wollen / können zur documenta nichts sagen, weil es sie nicht interessiert.
Verweigerung
Untere Königsstraße
F1 und F2/um 20 J.
Zwei schüchtern junge Frauen. Sagen, dass sie, außer dem, was offen zugänglich war, nichts gesehen haben.
Verweigerung
Friedrich-Ebert-Straße, Straßenbahnhaltestelle
F/20 bis 30 J.
Mit Koffer und schlecht gelaunt. Sagt, sie müsse zum Zug (wird später von Bekanntem von der Haltestelle abgeholt.
W/25 J./
Abitur
Vellmar
Telefonisch
I: Was haben Sie gesehen von der documenta fifteen, welche Erfahrungen und Eindrücke sind in Erinnerung geblieben?
W: Ich finde, ich habe extrem viel mitgenommen. Nicht, dass ich sagen würde: ein besonderes Kunstwerk, oder so. Aber die allgemeine Stimmung hat mein Leben noch einmal aufgelockert, sage ich mal. Gerade nach der Pandemie war das extrem erfrischend, auch als junge Person. Ich habe direkt eine Dauerkarte geholt, und bin auch so häufig hingegangen, wie es irgendwie nur ging. Ich fand vieles eindrucksvoll: Die documenta-Halle fand ich wunderschön, ich fand auch das in der Unterführung schön, bei der Frankfurter Straße. Also dass es auch überall in der Stadt verteilt war und man viel erleben konnte, die Orte anders erleben konnte, als sie bisher waren.
I: War das Ihre erste documenta oder haben Sie schon andere erlebt?
W: So intensiv war das jetzt tatsächlich die erste. Ich war bei der letzten documenta, weil ich auch Kunst Leistungskurs belegt hatte, als ich Abitur gemacht habe. Da waren wir auch häufiger mal da, aber nicht dass ich gesagt hätte, ich habe mir eine Dauerkarte geholt. Die documenta davor war ich auch mal da, aber da bin ich ja noch relativ jung gewesen und hatte noch nicht so das Verständnis dafür, muss ich mal sagen. Aber jetzt war die erste, die ich so richtig erlebt habe, und wo ich mir alles angeschaut habe.
I: Wenn Sie die Eindrücke zusammenfassen, auch von anderen documentas: Was macht die documenta aus, als Ausstellung, als Institution?
W: Für mich wirklich dieses andere Lebensgefühl in Kassel. Das ist für mich wirklich der Hauptaspekt. Dadurch, dass man ganz viele Eindrücke sammeln kann. Ich bin auch in Kassel geboren, ich komme von hier. Ich weiß, wie das den Rest des Jahres hier ist. Es ist halt sehr erfrischend und hat einen ganz anderen Flair in die Stadt gebracht. Ich muss auch sagen, dass ich es sehr wichtig finde, dass man dadurch sehr viel lernt und neue Einsichten gewinnt.
I: Was sind denn sonst Ihre liebsten Kultur- und Freizeitaktivitäten?
W: Ich treibe schon ganz gerne Sport. Aber ich gehe auch extrem gerne ins Museum. Oder ins Theater. Das genieße ich schon immer wieder, muss ich sagen. Mache ich auch viel zu selten, aber ich versuche immer alles mitzunehmen. So wenn ein neues Theaterstück ist, was ich ziemlich interessant finde, oder mal in die Oper zu gehen. Also ich versuche schon, relativ viele kulturelle Sachen zu machen, auch mit meinem Partner zusammen.
documenta fifteen: Danke!
Online-Petition für Künstler und künstlerische Leitung der documenta fifteen
Um Bürgerinnen und Bürgern ein Plattform zu geben, den Künstlerinnen und Künstlern der documenta und ruangrupa als künstlerischer Leitung zu danken, hat Dr. Wendelin Göbel die Online-Petition documenta-fifteen-danke eingerichtet. Bis zum 12.09.2022 haben 1.753 Unterstützer die Petition unterzeichnet. Auf der Seite können in 680 Kommentaren auch Bürger-Stimmen nachgelesen werden.
W1/25 J./
Hochschulabschluss/
Witzenhausen
W2/19 J./
Abitur/
Witzenhausen
Am Hallenbad Ost
I: Was haben Sie schon gesehen, was ist von diesen Sachen bis jetzt hängengeblieben?
W1: Wir waren bisher in dieser St. Kunigundis-Kirche, bei der wurden Künstler aus Haiti ausgestellt. Hat mir von der Stimmung gut gefallen. Aber ich habe auch gemerkt, dass ich so von Voodoo noch gar nicht so viel weiß, dass ich das gar nicht so einordnen konnte. Aber ich finde es trotzdem interessant. Mir war das nicht so klar, dass das so eine Glaubensrichtung ist. Das war so meine Erfahrung.
W2: Ich fand das eher ein bisschen verstörend, muss ich sagen. Ich habe schon auch ein bisschen ein Problem mit Skeletten und toten Körpern. Ich weiß nicht, ich musste mich da nicht so lange drin aufhalten. Aber so die Geschichte drum herum, wie das entsteht, zu den Menschen, fand ich schon auch spannend. Ja.
I: Und was steht heute noch auf dem Programm?
W1: Uns wurde noch dieses Hotel Hessenland empfohlen, dort hinzugehen. Und dann mal gucken.
I: Haben Sie ein Bild von der documenta, was das als Ausstellung ausmacht?
W1: Ich hatte vorher gemischte Sachen immer gehört. Auch, dass es viel, so um Bewegungen, um Bewegungen aus dem Untergrund, geht. Es gibt ja wohl auch so eine Fahrradtour, die man machen kann. Von so Orten, wo man sich dann verschiedene Projekte anschauen kann. So eine Gärtnerei, genau, so was. Würde ich sagen …
I: Könnten Sie mir sagen, was sonst Ihre liebsten Kultur- und Freizeitaktivitäten sind?
W2: Ja, Musik, würde ich sagen. Sonst so in Museen und Galerien gehe ich eher selten, oder auch Theater. Finde ich ganz cool, ja, aber das ist eher eine Seltenheit, würde ich sagen. Aber ich finde es schon spannend, mir das anzuschauen. Gerade, wenn es Themen sind aus der Zeit.
W1: Bei mir ist es glaube ich Kino und Film. Das mache ich am häufigsten.
W1/25 J./
Abitur/
Kassel
W2/25 J./
Abitur/
Kassel
Im ruruHaus
I: Was haben Sie denn bis jetzt gesehen und was ist als Eindruck hängengeblieben?
W1: Ich habe fast alles besucht, bis auf drei, vier Ausstellungsorte, und hängengeblieben in dem Sinn, welche Kunst ich gesehen habe, oder was ich als Eindruck habe?
I: Was dir als erstes in den Kopf kommt.
W: Sehr, sehr viele Bildschirme, die man sich angucken konnte, sehr sehr viel Filme, die kommen mir als erstes in den Kopf. Teilweise gute Filme, aber teilweise auch einfach nicht abzuschätzen, man weiß nicht, wie lang die sind. Man sitzt dann da, man weiß nicht richtig, wie lange bleibe ich noch sitzen, wie lange muss ich noch. Aber ich habe bisher sehr gute Anregungen gefunden, zwischendrin. Da ist wahrscheinlich jeder Geschmack einfach unterschiedlich. Es gab eine sehr schöne Audio-Installation, die mir auf jeden Fall noch im Gedächtnis bleiben wird, und … genau. Sehr politische Ausstellung, die sehr sehr viele weltliche Probleme anspricht. Auch klimatische Probleme, und viel dokumentiert, finde ich. Ich finde, es ist sehr viel Dokumentation, nicht unbedingt Kunst.
W2: Ich habe noch nicht so viel gesehen, zeitlich nicht geschafft. Aber von dem, was ich gesehen habe, sind es weniger Bildschirme, aber eher so … viel Buntes. Viel Farbe. Auf engem Raum. Viel Farbe auf engem Raum. Viel selbst gestaltetes von anderen Menschen, Kindern, auch anderen Menschen, die auch an diesem Projekt teilgenommen haben, gemeinsam was kreiert haben. Und das finde ich eigentlich sehr schön. Ich habe noch vor, mir noch was anzuschauen, heute und morgen. Aber das, was ich bis jetzt gesehen habe, hat mich schon beeindruckt. Ein bisschen viel, aber da muss man sich halt ein bisschen Zeit nehmen.
I: Und der Gesamteindruck von der documenta? Heute, aber auch, wenn Sie schon mehr davon wissen?
W2: Ich fand es sehr schön, dass es sehr verteilt über die Stadt war, so dass man als Besucher, aber auch jemand, der vielleicht auch aus Kassel kommt, nochmal neue Orte entdeckt hat. Sehr breites Bild von Publikum, das man in der Stadt auch mitbekommen hat. Weil das in Wohnvierteln lag, in der Innenstadt lag, in einem alten Kino war. Das fand ich irgendwo sehr schön, sehr angenehm. Eine sehr bunte Ausstellung, die glaube ich auch ein sehr unterschiedliches Publikum angezogen hat. Ich habe oft gehört, dass es sehr familienfreundlich war. Das finde ich gut und ziemlich schön auch. Auch die Idee, einen Kindergarten mitten in die Ausstellung zu packen und zu sagen: „Hier ist Raum für Kinder.“ Weil sie ja auch ein Mitglied der Gesellschaft sind, und einfach auch einen Platz zugewiesen bekommen sollten. Nicht so ein homogenes Kunstausstellungspublikum angezogen hat. Sehr international auch. Und sehr kollektiv, würde ich auch sagen. Vernetzen und viele zusammenführen. Viele Ansätze, die irgendwie antihierarchisch sind in der documenta. Finde ich auch sehr gut gewählt.
W1: Die Zugangsweise ist nahbarer als bei den documenta davor. Auch weil es eben strukturell schwächere Viertel sind, die eingebunden werden. Aber auch, weil es nicht auf Museen ausgelegt ist, die ausschließlich so White Room-Ausstellungskonzept verfolgen. Dass es auch viele Orte gibt, die einfach schon vorher als etwas anderes existiert haben, und nicht als Museen, renoviert wurden, oder das neue Orte entstanden, die dann Kultur zeigen. Auch vieles, was dem widerspricht trotzdem, die Institution, ganz anders ist als das Konzept.
I: Die Institution deckt sich nicht mit dem Konzept?
W1: Die Struktur der Institution deckt sich nicht mit der Struktur des Konzepts. Da hat man ja viel auch in den Nachrichten drüber gehört. Wo sich dann Sachen nicht umsetzen lassen. Sachen auch nicht angenommen werden von diversen Leuten. Ich habe auch viel gehört, dass häufig ältere Leute nicht so viel damit anfangen können, dass eben nicht dieses klassische „wir schauen uns Gemälde in einem Museum an“, sondern wir haben eben viel mehr diese Breite. Die beansprucht werden, und dann dementsprechend viele Leute damit auch nichts anfangen können. Aber würde schon sagen, die breite Masse ist schon eher angesprochen mit dem Konzept, weil es eben sehr kollektiv ist.
W2: Das einzige, was mir als Kritik gerade noch einfällt, die ich von älteren gehört hatte, ist, dass es sehr oft Sitzmöglichkeiten auf dem Boden gibt, oder Sitzsäcke. Oder dunkle Räume, man stolpert da rein, sieht die Kabelkanäle nicht. Das habe ich öfter gehört. Für junge Leute ist das kein Problem und hip, man ist da auf dem Boden und legt sich da schön in so ein Couch-ähnliches Ding rein. Das ist dann so eine Anregung, die man mitnimmt. Dass man doch offen für ganz viele Menschen, verschiedene Altersklassen ist, die unterschiedlich unterwegs sind.
W1: Ja, auf jeden Fall. Und die Beschriftungen von den einzelnen Kunstwerken ist auch sehr klein geschrieben oder hängt sehr weit unten, wo man dann als älterer Mensch nicht so …
W2: Und was ich auch noch schade finde, ist, dass man um viele Kunst zu verstehen, sich eigentlich diesen Führer, diesen documenta-Führer noch dazukaufen muss. Da ist von den Beschreibungen neben den Kunstwerken häufig nur eine Nennung des Materials, und kein Hintergrund, den der Künstler sich dabei gedacht hat. Das heißt, wenn man als Besucher herkommt, muss man erstmal die Kosten des Besuchs in Kauf nehmen, der Anreise, der Unterkunft, die zu diesen Zeiten wahrscheinlich auch nochmal teurer ist als normal in Kassel. Und dann nochmal obendrauf eine Führung wahrscheinlich, um viel zu verstehen. Oder eben dieses Buch sich kaufen und sich selber da durchforsten und durcharbeiten. Es ist nicht so „man geht hin, man nimmt mit“. Auch viel, aber nur, was man selber versteht, und nicht, was der Künstler sich gedacht hat.
I: Dürfte ich euch fragen, was eure Lieblingskultur- und Freizeitaktivitäten sind?
W1: Ich bin auch sehr viel in Kollektiven unterwegs. In Künstler:innenkollektiven, oder wo es um Kunstvermittlung geht. Deswegen passt es auch zu dem Konzept. Man kann es dann annehmen dadurch.
W2: Ich bin in der Freizeit sehr viel in der Natur unterwegs, würde ich sagen. Oder am Basteln, am Werkeln, am Bauen, genau.
Lothar Röse
Hofbuchhandlung Vietor
Kassel
Am ruruHaus
Wie war es, was ist hängengeblieben?
Ambivalent. Voller Euphorie, bis zum zweiten Tag. Dann große Traurigkeit und die größte Traurigkeit, nachdem dann klar war, dass Sabine Schormann zurückgetreten ist. Danach waren zwei, drei Wochen, da mussten wir nach Motivation suchen, weiterzumachen. Das hat sich wieder normalisiert durch die vielen Kontakte, die zustande gekommen sind, mit Besuch, mit Gästen, mit Künstlern, mit den ruangrupas. Freunden, die bei uns zu Hause waren, die uns immer besuchen, wenn documenta ist. Alte Freunde, die gerne zu documenta-Zeiten da sind. Die kamen aus aller Welt: Mauritius, Australien, USA, Frankreich. Das war ganz schön, diesen Austausch zu haben. Es gab niemanden, der gemäkelt hätte. Viele haben vorher die Presse gelesen, oder haben mir vorher schon E-Mails geschickt, aus Frankreich oder aus den Staaten, aber haben diese deutsche Presselandschaft viel distanzierter gesehen, haben das nicht gleich übernommen, wie das in der Süddeutschen Zeitung zum Beispiel geschrieben wurde. Und haben schon gedacht: Da steckt noch irgendwas anderes dahinter.
I: Da gab es kein Mäkeln. Aber aus den Stimmen, die wir bisher gehört haben, gab es trotzdem Dissonanzen. War das spürbar? Wie wurde damit umgegangen?
Röse: Dissonanzen gab es wegen so Kleinigkeiten, die mit der Ausstellung selbst wenig zu tun haben, wie diese Fressmeile dort. Die immer unaufgeräumt war, dreckig war, hohe Preise. Da haben wir uns alle drüber aufgeregt, das war manchmal zu forsch. Ich weiß auch nicht, wer das organisiert hat. Das waren die Dinge, die nicht gefallen haben. Mit den Veranstaltungen, die nicht so gut kundgetan wurde, in Zeitungen oder so. Da mussten die Leute erstmal lernen, damit umzugehen, dass diese documenta doch eine etwas andere Organisationsform gewählt hat.
Das waren eher so Nebenschauplätze, würde ich sagen, die für solche Ausstellungen sein mögen. Das mit den Veranstaltungen habe ich eben schon versucht anzudeuten. Es gab so eine ganz andere Kommunikationsform auf dieser documenta. Wahrscheinlich so, wie sie in manch anderen Ländern heute auch üblich ist und vielleicht auch war. Also, von Mund zu Mund, und man weiß dann trotzdem, abends ist eine Menge los. Wir hatten einige Veranstaltungen hier, wo wir vormittags dachten, da kommen vielleicht zehn Leute, und dann waren da auf einmal 1.000 Leute für eine Modenschau in der Treppenstraße. Da war dann plötzlich ein Fest.
I: Dieser Pop Up-Gedanke ist schön. Ich diese Stimmen zur Zugänglichkeit von Informationen gerade auch von Besuchern, die von außerhalb kamen, gehört. Die zum Beispiel die Website als relativ schwer zugänglich beschrieben haben. Gerade auch für die Vorbereitung auf diese Ausstellung, die ja sehr inhaltlich fokussiert war. Wie haben Sie das erlebt?
Röse: Ich habe es einmal persönlich so erlebt, dass Informationen schlecht waren, dazu stehe ich auch. Die Kommunikationsabteilung hat praktisch gar nicht stattgefunden, obwohl die schon seit Jahren hier angestellt waren, hier leben und sehr viel enger Eingang in die Stadtgesellschaft hätten finden können. Die waren praktisch nicht anwesend. Und hätten auch für die Gesellschaft, für die sie gearbeitet haben, also die documenta gGmbH, besser tätig sein müssen. Ohne Frage! Wer nun daran schuld ist, interessiert mich nicht, aber das hat nicht stattgefunden. Das haben auch viele gemerkt, dass da anscheinend wenig Mut war, vielleicht auch Befähigung, sich der Öffentlichkeit zu stellen. Jemand, der in der Kommunikation ist, muss mit der Öffentlichkeit umgehen können. Nicht nur negative Dinge verbreiten, sondern auch mal positive. Positive Dinge sammeln. Das wurde in Summe gemerkt, dass da wenig passiert ist. Relativ vorsichtig ausgedrückt. Das war die schlechteste, eine ganz miserable Abteilung.
Die nächste Geschichte war mit den Führungen. Da gab es Unzufriedenheit mit den Sobat Sobats. Die wurden ja vorher alle ausgebildet von der extra angestellten Dame, und die ersten vier Wochen hörte ich nur, dass die vollkommen ahnungslos waren. Da habe ich auch die Loyalität, die Empathie und einfach auch das Interesse an der documenta vermisst. Ich glaube in Summe, die waren froh, dass sie einen Job hatten, aber die haben sich gar nicht darauf eingelassen. Wir, wir waren froh, auf der documenta zu arbeiten, aber nicht wegen des Geldes, sondern weil wir Informationen hatten. Wir konnten uns kundig machen, waren dabei. Das ist bei den Mitarbeitenden von der Sobat Sobat gar nicht rübergekommen. Vollkommen ahnungslos, was die Kunstwerke betrifft. Dann habe ich so Sachen gehört: „Ach, da müssen Sie mal auf dem Schild lesen, was da steht.“ Das geht nicht. Da muss sich dann wirklich diese Abteilung, Education nannte die sich glaube ich, anders aufstellen. Ich habe da manchmal, wenn Leute dort waren, wo die Führer nicht gekommen sind, eine Einführung gemacht. Das wurde sehr dankbar angenommen. Und das habe ich gerne gemacht, das hat doch Spaß gemacht. Weil da Interaktion stattfindet. Das ist doch das größte, auch für solche Sobat Sobats. Das haben die nicht begriffen – da in dieser Abteilung Education. Das sind doch die größten Multiplikatoren. Wir haben oft Firmengruppen und sogenannte VIPs durchgeführt von der IHK und dem Deutschen Industrie- und Handelstag und solche Leute. Wo ich gefragt wurde, ob ich das gerne mache. Die sind tagsüber auf der documenta gewesen, abends habe ich irgendwo was mit denen gegessen, und dann kamen ganz positive Dinge rüber. Weil die nach den Erklärungen nochmal einen ganz anderen Zugang gefunden haben, zu den Kunstwerken, zu der Art und Weise. Das fanden die alle interessant. Was mich auch gefreut hat, dann gab es Beifall. Auch von den nicht kunstaffinen Leuten. Jemand, der Industriechef ist, der ist erstmal nicht kunstaffin. Die sich dann positiv überrascht zeigten, was hier so alles passiert. Vornehmlich diese Nicht-Kunst-Werke, die nicht fassbar sind, dieser Lumbung-Gedanke, die Offenheit, das miteinander Reden. Das ist für mich die wichtigste Botschaft.
I: Ist die documenta insgesamt eher für diese Menschen gewesen?
Röse: Also ja. Das ist jetzt meine zehnte bewusste documenta. Es ist so, dass das die am wenigsten kunstaffine documenta war. Die Damen mit den Prada-Schläppchen und der Biennale-Tüte unterm Arm waren nicht hier. Und es ist eine nicht-akademische documenta gewesen. Wir hatten viele Leute dabei, die nicht akademisch vorgebildet waren, die aus Gegenden kommen, die sich mit Kunst sonst nicht beschäftigen. Das sehen wir hier im Publikum, die jünger waren. Das hat Spaß gemacht. Die vollkommen unvoreingenommen an diese Dinge herangegangen sind. Und ganz überrascht waren, was es da an bunten Farben gibt. Dieser freie Zugang, das hat mir sehr viel Spaß gegeben.
I: Was wären so abschließend Lehren aus der documenta fifteen für die folgenden?
Röse: Das muss sich ja immer neu erfinden, da sind wir noch viel zu früh. Ich glaube, da werden wir in eineinhalb Jahren drüber reden. Bis sich das gelegt hat. Das kenne ich auch von anderen Prozessen, das braucht immer eineinhalb Jahre, bis sich so eine documenta beruhigt. Das ist ja ein wiederkehrender Prozess. In Summe wird diese documenta später erfolgreicher dastehen, als sie das bis jetzt tut. Da bin ich ganz sicher. Das ist ja bei der letzten documenta auch nicht anders. Von der ich sehr begeistert war, vor allem von der Geschichte in Athen. Das wird hier ähnlich sein. Dass man Verantwortlichkeiten haben muss, das ist auch eine Lehre daraus. Das mit dem Kollektiv ist ein interessanter Ansatz, aber ich bin Segler und weiß: Einer muss das Sagen haben. Und ich weiß: Lieber eine Fehlentscheidung treffen als gar keine. Und sich konspirativ zurückziehen … das hat so etwas Sozialarbeiterisches. Und das ist so wie Teamarbeit: „Toll, ein andere macht es“, das wäre die Abkürzung dafür. Nicht, dass das die ruangrupas von vornherein so gedacht haben, aber für Dinge, die passieren müssen in der heutigen Gesellschaft ist es vielleicht nicht der richtige Ansatz. Das war ein Experiment, was man gelten lassen sollte, nichts hat ja Anspruch auf Richtigkeit. Jetzt kann man gucken, wie so etwas in Zukunft sein kann. Gut finde ich, dass der Marktzugang für alle Künstler gleich war. Über die Lumbung-Gallery. Es konnte also kein berühmter Galerist hingehen und Dinge ersteigern und den Preis hochtreiben, es wurde alles zentral über die Lumbung-Gallery gemacht. Das finde ich einen tollen Prozess, das halten die auch heute noch durch. Dass ein berühmter Galerist, den viele kennen, zu mir kam: „Hier, das sind Hütchenspieler, man kann mit denen gar nicht verhandeln.“ Das fand ich sehr exemplarisch. So dass jetzt nicht plötzlich einer aus der Gruppe herauskommen kann und sagen kann: „Ich bin jetzt ein Star, weil ich mit dieser Galerie arbeite.“ Ich glaube, das ist ein interessanter Ansatz. Es ist auch der solitäre Ansatz der documenta. Hoffentlich bleibt das immer so. Denn viele sind aus der documenta rausgekommen wie Phönix aus der Asche. Das wird hier glaube ich nicht so sein können. Was es da so an Nachhaltigkeit gibt, weiß ich nicht. Allein die intellektuellen Dinge, die passieren, die in Gang gesetzt worden sind. Ein anderer Umgang nochmal mit Antisemitismus. Da hat Hans Eichel gestern nochmal was Tolles gesagt: Wir als Deutsche sollten nicht den Finger heben und anderen Ländern erzählen, was Antisemitismus ist. Das fand ich einen sehr wichtigen Satz. Das ist dann schon so lehrerhaft, und das ziemt sich nicht für uns. Das ist ja eigentlich schon fast kolonial. Ich denke, das wird eine gute Folge sein, ein anderer Umgang. Für die Stadt Kassel befürchte ich das Schlimmste. Die Gesellschaft teilt sich gerade, in die Leute, die für diese documenta waren, und die, die gegen diese documenta waren. Die sich gegenseitig beschimpft haben … es gab heftige Beschimpfungen und Beleidigungen. Als ich mein erstes Zeitungsinterview gegeben habe, wurde ich schon morgens als antisemitisch beschimpft. Man wird mit Dingen konfrontiert, die ich vorher in meinem Leben nicht für möglich gehalten hätte. Zum Glück bin ich da nicht in Position gegangen, um mich zu verteidigen. Aber manch anderer, der in Not ist, macht das dann und begeht dann natürlich auch Fehler.
I: Warum sind die Wogen so hochgeschlagen?
Röse: Wenn ich das wüsste. Es ist ein soziologisches Problem, glaube ich, bedingt durch zweieinhalb Jahre Pandemie. Viele Leute konnten in diesen zweieinhalb Jahren nicht mehr so richtig austauschen. Man hat sich nicht mehr getroffen, man war abends nirgends mehr eingeladen, man war nicht mehr auf Events. Jetzt konnte man mal wieder so richtig raus, und man konnte mit Mini-Sätzen richtig was lostreten. Das ist eher etwas Psycho-Soziologisches. Ich befürchte, dass das ein Ansatz sein kann, neben diesen politischen Dingen. Aber da habe ich zu wenig Ahnung, da bin ich zu wenig politisch, als dass ich das bewerten möchte. Ich bin nur selbst froh, dass ich nicht in der Politik gelandet bin.
I: Über zwei, drei Interviews bin ich darauf gekommen, dass es ja fast ein Brauch ist, etwas von der documenta in Kassel zu behalten. Was würden Sie von dieser documenta ankaufen?
Röse: Ich selber bin dabei, etwas zu kaufen. Da hoffe ich, dass ich das bekomme. Jetzt für die Stadt Kassel, was die Stadt kaufen könnte – da sind wenige Dinge dabei, bei denen man sagen könnte, die haben als Objekt Bestand, das muss man vielleicht diesmal lernen. Ich würde sagen, wenn es da einen Etat gibt, ich habe was gehört von 600.000 Euro, dann wäre es vielleicht sinnvoll, den in etwas hineinzustecken, wo ein paar Gedanken, die jetzt hier Eingang gefunden haben, weitergeführt würden. Die Objekte sind jetzt nicht so, dass man die in der Öffentlichkeit ausstellen könnte, oder wenn da Regen draufkommt, sind die weg. Und die Sachen, von denen geredet wurde, die sind aus Balsaholz oder aus Bambusstämmen, das ist wirklich nur temporär, ganz klar. Aber dass man versucht, die Gedanken, die sich so langsam eingefunden haben hier, dass man versucht, das festzusetzen, das fände ich wichtig. Das ist dann eher eine intellektuelle Diskussion als ein einzelnes Objekt. Diese documenta, da geht es ja nicht mehr nur um das schöne Bild, die schöne Marmorbüste. Und da müssen wir uns Gedanken machen, dass wir da vielleicht etwas finden, was für die gesamte Stadtkultur nachhaltig ist. Und da gibt es ja viele Möglichkeiten. Wir haben die Gegenden im Kasseler Osten, die nochmal eine neue Wertschätzung erfuhren, was ich ganz toll finde. Aus diesem Kasseler Osten waren auch viele Leute hier, die ich noch nie hier gesehen habe. Da haben wir viel Chancen, das weiterzuführen. Einfach, dass man diesen Menschen, die dort leben, auch Wertschätzung entgegenbringt. Ich glaube, das ist einer der wichtigsten Gedanken.
Was übrigbleibt, dass zum Beispiel die ruangrupas die Listen der teilnehmenden Künstler nicht an eine bekannte Kunstzeitung gegeben haben, sondern an die Zeitung der Obdachlosen, an „Asphalt“. Ich beobachte, wie die Leute, die diese Zeitung verkaufen, die gibt es ja in ganz Deutschland, denen wird jetzt eine ganz andere Wertschätzung entgegengebracht. In der Art: „Ach toll, ich gebe Ihnen mal zwei Euro, das ist ja toll, was sie machen.“ Die kommen auf Augenhöhe in Dialog mit den Leuten. Das haben die früher nie erlebt. Das ist eine Sache, die mir ein bisschen Gänsehaut macht, positiv. Wo ich denke: Da wäre ein Schlüssel, wo man weitergehen könnte. Nicht, dass man jetzt mit der Gießkanne in soziale Projekte Geld reinschüttet. Ich glaube nicht, dass das der richtige Angang ist. Wir brauchen einen Überbau, ein oder zwei Ideen. Und wenn da die Stadtgesellschaft, die Stadt Kassel sagen würde: „Wir einigen uns darauf.“ – dann kommen da vielleicht noch Spenden. Und nicht, dass das im Sand verläuft, sondern dass da konkret was passiert, ohne dass irgendwelche ehrenamtliche Vorstände sich dann in Eitelkeit hineintun, sondern wirklich mit Bezug zu den Leuten, an die das gehen sollte. Da wären für mich die Menschen im Mittelpunkt, die Wertschätzung, was mit diesem Lumbung-Gedanken sehr viel zu tun hat. Also, andere Gegenden, weil der Kasseler Westen, diese Gegenden, die sind alle – positiv – mit Kunst sowieso voll, die brauchen das nicht.
Und Lumbung hat mich selbst – ich kann immer nur über meine persönlichen Erfahrungen reden. Und meine Lumbung-Erfahrung war, dass ich mit meinem fast schon größten Geschäftsfeind, der Buchhandlung König, der größte Kunstbuchhändler der Welt, dass ich mit dem inzwischen in fast schon freundschaftlicher Beziehung stehe. Dass wir den Laden hier [im ruruHaus] gemeinsam betreiben. Das ist richtig viel. Das ist das tollste, was die documenta geschafft hat. Wir haben uns bekämpft, das ging schon sehr an die Substanz. Und wir sind jetzt fast Freunde geworden, die schicken mir Bilder aus dem Urlaub, und wir laden uns gemeinsam zum Grillen ein. Und haben vielleicht gemeinsame Projekte für die Zukunft. Das ist wundervoll. Und das sehe ich auch in manchen Betrieben, in manchen Verlagen: Dass man sagt: Nicht der größere schluckt den kleinen, sondern der kleine wird genauso gewertschätzt und bringt das, was er kann, mit ein. Denn wir haben andere Qualitäten als König, wir sind ein Hundertstel so groß, oder so, aber bestimmte Qualitäten haben wir auch, und das hat er auch anerkannt. Die haben natürlich eine Professionalität, die wir nicht haben. Nicht dass man alles gleich negativ bewertet, was schwächer oder kleiner ist. Dem eine Chance zu geben, das ist gut.
M/38 J./
Hochschulabschluss/
Berlin
Vor der Kirche St. Kunigundis
I: Was haben Sie gesehen von der documenta, und was ist an Eindrücken hängengeblieben?
M: Also ich habe schon ziemlich viel gesehen, ich bin zum zweiten Mal hier. Ich war vor vier Wochen zum ersten Mal hier, mit meiner Partnerin, und habe da erstmal die in Anführungsstrichelchen großen, oder die meistdiskutierten Ausstellungen gesehen, unter anderem das hier. Jetzt bin ich zum zweiten Mal hier, dieses Mal mit einem Freund, und ich habe mir dann zu Herzen genommen – ich hatte in einem Interview mit ruangrupa gelesen, dass eigentlich das Rahmenprogramm das Wesentliche ist, und deshalb haben wir auch gestern eher das Rahmenprogramm in den Blick genommen. Mein erster Kontakt mit documenta war schon so … war dann schon so überrascht. Einerseits … Man kommt ja um den Skandal nicht herum. Ich habe dann gemerkt, als ich reingekommen bin, dass ich schon mit einer gewissen Erwartung gekommen bin. Dann fand ich das aber relativ schnell schade, dass die ganze documenta von dem Skandal so überschattet wurde, weil ich finde, da ist sehr viel mehr zu sehen. Letzten Endes tun mir in erster Linie die beteiligten Künstler:innen leid, weil ihre Sichtweisen leider viel zu oft in diesen nicht besonders sachlich geführten Konflikt … Mir ist – das ist eine Entwicklung, die man in der Kunstwelt schon lange beobachten kann: das Verschwinden der Autonomie der Kunst. Ich finde, das hier war so ein Ausrufezeichen für diese Entwicklung. Die Kunst beschäftigt sich nicht mit kunstinternen Debatten oder Themen, sondern bezieht ihre Legitimation durch ihren gesellschaftlichen Bezug. Und da finde ich es dann leider doch etwas inkonsequent von ruangrupa, dass sie nicht auch bis zum Ende gedacht haben, und dann auch verantwortungsvoll mit diesem sehr propagandistischen, antisemitischen Bildern umgegangen sind. Aber das ist halt wirklich, da habe ich auch mit meinem Freund heftig debattiert. Das fand ich schlechtes Krisenmanagement von denen, von der Kurator:innengruppe, dass die es nicht wieder geschafft haben, die Aufmerksamkeit auf die vielen Stärken dieser documenta zu lenken. Zum Beispiel gestern habe ich dieses „Citizens‘ Cinema“ in der Karlsaue erlebt, von dieser japanischen Kino-Gruppe, das war wirklich gut. Oder das z/ku, das Schiff. Das fand ich beides stellvertretend für die Stärken der documenta. Dass die „Schönheit“, der ästhetische Wert durch das Nachspüren dieser kollektiven Energien kommt, und nicht von irgendwelchen Pinselstrichen. Das hat man da auch wahnsinnig gut gefühlt. Man wurde ja Teil davon. Die z/ku, die haben auch mitgekocht, es gab Bier, die haben ganz spontan erzählt, wie das alles war. Dieses Citizen … Dieses Caravan-Cinema hatte, hat auch diesen Raum geschaffen, in dem man sich aufhalten konnt. Und ich empfand das auch als positive Entwicklung gegenüber der letzten documenta, wo ich … Da ging es sehr viel um Aufklärung, das hat sich oft wie ein Magazin oder Journalistik angefühlt. Und hier ist der Fokus, finde ich, nicht so sehr auf Information, sondern auch auf Machen und Beteiligung. Das finde ich viel konsequenter. Dann leider doch schade mit diesem Skandal, dass das doch einerseits so schlecht von ruangrupa gemanagt wurde, und andererseits, dass es dann auch solch polemische Wellen geschlagen hat.
I: Was gucken Sie sich heute noch an?
M: Das hängt ein bisschen von meinem Kumpel ab, der reist um fünf ab, und ich hatte ja im Sachen im Programm nachgeschaut, die ich noch sehen will. Es soll ein Film von Jimmy Durham gezeigt werden, das z/ku macht wieder was heute, mit dem e-coin und dem Honig. Ansonsten habe ich die meisten Ausstellungsorte eigentlich schon gesehen. Vielleicht noch das Grimm-Museum [Grimmwelt] oder so.
I: Können Sie mir sagen, was Ihre liebsten Freizeit- und Kulturaktivitäten sind?
M: Na, ich bin ja Künstler. Ich gehe auch einfach sehr gerne in Ausstellungen, Theater, Kino, und so. Also ich bin hier schon zuhause.
Monika Junker-John
Rückblick auf die documenta fifteen, zwei Tage danach.
Dienstag, 27. September vormittags. Der Blick von der Kasse des Staatstheaters nach draußen rechts geht auf den gewundenen Vorbau aus ineinander verflochtenen Ruten, mittels dessen die documenta-Künstler die documenta-Halle einhundert Tage lang in eine Zauberhöhle verwandelt haben. Im Regen mutet er nun an wie der Eingang zu einem verlassenen Bibernest. Die documenta fifteen ist vorbei – und mit ihr ein Sommer, den wir Kasseler als einzigartig gastliches, sinnliches, aufregendes Fest erleben durften. Als lehrreiches auch: Kunst, die als quasi organisches Bindemittel von Lebens- und Arbeitsgemeinschaften, als Geisterbeschwörung, als Überlebenshilfe und politisches Agitationsmittel funktioniert und auch sehr lustig sein kann.
Ja, freilich: Es gab recht viele Videos in der Muttersprache der KünstlerInnen mit eingeblendetem Englisch zu sehen, für die jemand mehr Geduld, einen gesünderen Rücken und mehr Englischkenntnisse gebraucht hätte als ich. Und es gab auch als banal empfundene Beiträge. Aber „große Kunst“ war gar nicht der Maßstab für die Auswahl der Objekte. Sondern die Botschaft, was sie für ihre MacherInnen in deren – oft bedrohten oder prekären – Lebensumfeld bedeuten.
Im krassen Gegensatz dazu die schrillen Forderungen der organisierten Antisemitismus-Verfolger; postwendend zitiert und kommentiert von Teilen der – „Was mit Antisemitismus geht immer!“ – das Thema dankbar aufgreifenden Journaille, und leider auch der Kulturpolitik. Ich habe allein als Zeitungsleserin fünf deutsche Organisationen kennengelernt, die sich qua ihrer Existenz dem Schutz des Judentums und Israels verpflichtet fühlen und die sich, angesichts von zwei oder drei historischen Exponaten, in die man Antisemitismus hineindeuten konnte, reflexartig dermaßen aufregten, als ob mit deren Ausstellung schon das Existenzrecht des israelischen Staates in Frage gestellt werde. Sie forderten, mit wechselnder Lautstärke, mal die Entfernung der Exponate, mal den Rücktritt der Geschäftsführung, des Aufsichtsrats, des Kasseler Oberbürgermeisters oder die Schließung der documenta, am besten gleich für immer. Und das, ohne die documenta zumeist überhaupt besucht zu haben. Ich respektiere selbstverständlich die Existenz des Staates Israel; ich achte und schätze die gesellschaftliche Tradition und Kultur der jüdischen Glaubensgemeinschaft und bewundere, was ich an Lebensfreude, Klugheit, Eloquenz, Witz und Fähigkeit zur Selbstironie bei Juden und in der jüdischen Kultur erlebt habe.
Aber: Wo blieb das alles in diesem Sommer? Vor wenigen Tagen verlangte der Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses, getreulich zitiert in der Presse, zum Schluss der documenta 15 noch, die Politik müsse sich für die documenta fifteen entschuldigen, denn sie sei mitverantwortlich. Wie darf man sich das vorstellen? Claudia Roth entschuldigt sich beim Zentralrat der Juden? Der Bundestag bei der Knesset? Wüsste ich es nicht besser: Bei soviel alttestamentarischer Rechthaberei könnte man aus schierem Ärger zum Antisemitismus konvertieren.
Zur Zukunft des Formates „documenta“ ist alles Kluge bereits gesagt. Die documenta muss weiter in Kassel stattfinden. Die Stadt muss zu 50% Anteilseigner bleiben. Der Aufsichtsrat der documenta sollte keine politischen Richtlinien für die Bestellung der künstlerischen Auswahlkommission vorgeben; deren Mitglieder müssen das Kuratorium ihrerseits ohne politische Vorgaben völlig frei aussuchen können. Das von ihnen empfohlene Kuratorium muss die inhaltlichen Richtlinien für die Ausstellung frei und selbstverantwortlich definieren können und selbst für deren Einhaltung sorgen. Keine externen, von der Politik bestellten, als „Beirat“ daher kommenden Tugendwächter, weder bei der Auswahl der Kommission, noch gar für die künstlerische Leitung! Freilich: Ein Medienkonzept, ein Pressesprecher bzw. eine Pressesprecherin sind, wie sich jetzt gezeigt hat, für künftige documenten unverzichtbar. Eine Papparazzi-artige Pressejagd, wie sie unsere Gäste, die documenta-Künstler, und die bedauernswerte Geschäftsleitung der d15 ertragen mussten, ist 2027 um jeden Preis zu verhindern.