documenta fifteen – ist eine Weltkunstausstellung, in der erstmals ein Kollektiv aus dem globalen Süden die Perspektive bestimmt, in Deutschland überhaupt möglich?
Um die documenta fifteen wird eine lebhafte, teils heftige Debatte geführt. In dieser Debatte offenbart sich ein Grundmissverständnis über Wesen und Bedeutung der documenta, das lebensgefährlich für die Kunstausstellung werden kann. Die documenta ist längst keine deutsche Ausstellung mehr, bei der man vielleicht noch auf die Idee kommen könnte, ihr mit nationaler Politik Vorgaben zu machen. Die documenta ist das Forum der globalen Kunstgemeinde. Sie findet überwiegend in Deutschland, in Kassel statt, sie wird überwiegend mit deutschem Geld finanziert, aber ihr Inhalt wird global bestimmt. Das macht sie so einmalig, deshalb ist sie so bedeutend. Was sind die Voraussetzungen für ihre Globalität?
1955 wurde sie in Kassel von Arnold Bode und seinem Freundeskreis gegründet, um Deutschland wieder in die „Westliche Moderne“ zurückzuführen. Die erste documenta löste eine überwältigende Resonanz aus, so dass die zweite sich wie selbstverständlich anschloss. Es ging um die künstlerischen Positionen der Gegenwart. Die documenta internationalisierte sich, blieb aber europäisch-nordamerikanisch zentriert. Die documenta 5 (1972) verantwortete erstmals ein „Externer“, der Schweizer Harald Szeemann. Seitdem gilt das Prinzip der Alleinverantwortung des Kurators, der Kuratorin. Das ist die künstlerische Freiheit der documenta.
Mit der d 10 (1997) beendete die Französin Catherine David die europäisch-nordamerikanische Vorherrschaft. Sie erklärte die documenta zur Weltkunstausstellung. Okwui Enwezor (d 11, 2002), Nigerianer mit amerikanischem Pass, erster Nichteuropäer als Kurator, zog daraus die Konsequenz: Fünf Plattformen auf vier Kontinenten, die letzte die Ausstellung in Kassel, das zusammen war für ihn die documenta. Sie globalisierte sich also auch räumlich. Die d 12 (2007) und die d 13 (2012) führten das fort. Adam Szymczyk (d 14, 2017) veranstaltete die Ausstellung in Athen und Kassel als gleichberechtigten und gleichgewichtigen Standorten. Und nun verantwortet erstmals ein Künstler/- innenkollektiv aus dem globalen Süden das Weltkunstereignis.
Auch das Auswahlverfahren für die künstlerische Leitung ist längst kein deutsches Verfahren mehr. Acht höchst renommierte Museumsleiter/-leiterinnen, Ausstellungsmacher, Kunstkritiker aus mehreren Kontinenten erarbeiten einen Vorschlag (nicht eine Vorschlagsliste) für die Leitung der documenta. Der Aufsichtsrat übernimmt dann diesen Vorschlag als förmlichen Beschluss. Der letzte gestaltende deutsche Einfluss liegt also bei der Benennung der hochkarätigen globalen Findungskommission. Dieser Rückzug der Politik, die Verlegung der Entscheidungen zu künstlerischen Fragen immer stärker in die globale Kunstszene, das war eine auch vom Aufsichtsrat bewusst gesteuerte Entwicklung. Er vollzog, was Arnold Bode skizzenhaft vorgedacht hatte. Wenn irgendwo, dann gilt hier das Motto: global denken, lokal handeln.
Keine andere internationale Kunstausstellung hat diese Unabhängigkeit und Freiheit. So ist die documenta zu dem Forum der Weltkunstgemeinde geworden, beheimatet in Kassel, einer im Weltmaßstab kleinen Stadt in der nordhessischen Provinz. Ihre Globalität ist ihre Einmaligkeit. Deutschland sollte stolz darauf sein.
Diese Einmaligkeit hat ihren Preis. Kassel und das Land Hessen als Gesellschafter müssen sie vorrangig finanzieren. Der Bund gibt nur einen kleinen Zuschuss. Hineinreden aber dürfen sie alle nicht. Kunstauffassungen aus aller Welt begegnen sich hier, Streit ist vorprogrammiert, muss ausgehalten und ausgetragen werden, mit den Mitteln der Kunst, im Diskurs der Zivilgesellschaft. Die künstlerische Freiheit garantiert das Grundgesetz. Darum kann es die documenta auch nur in einer Demokratie geben. Die Grenzen der Freiheit definiert nicht die Politik, nicht gesellschaftliche Gruppen mit ihren Erwartungen, nur das Recht. Und wenn und soweit die documenta in Deutschland stattfindet, das hier geltende Recht. Volksverhetzung z. B. ist immer strafbar. Und die documenta wird immer das Lebensrecht und die Würde aller Menschen verteidigen. Wie könnte sie sonst Forum der Weltkunstgemeinde sein?
Und nun diese Debatte. Das sogenannte „Bündnis gegen Antisemitismus Kassel“ erhob Anfang des Jahres den Vorwurf, die documenta fifteen sei antisemitisch. Begründet wurde dies in der Hauptsache mit der Einladung des palästinensischen Künstler/-innenkollektivs „The Question of Funding“ und der Einstellung seines Sprechers. Außerdem wiesen angeblich Mitglieder der globalen Findungskommission und auch eingeladene Künstler / Künstlerinnen eine Nähe zur BDS – Initiative auf, die einen Boykott Israels propagiert. Diese BDS – Initiative hatte der Bundestag in einer Resolution als antisemitisch eingestuft und verlangt, Künstlern, die sie unterstützen, keine öffentlichen Räume und keine öffentlichen Mittel für Auftritte oder Ausstellungen zur Verfügung zu stellen. Gegen diese Resolution verwahrten sich mehr als hundert Repräsentantinnen und Repräsentanten der führenden deutschen Kultureinrichtungen („GG 5.3 Weltoffenheit“). In Europa steht Deutschland mit dieser Resolution ziemlich allein da, weltweit sowieso.
Eine Reihe von Medien übernahm sofort und ungeprüft diese Vorwürfe des Kasseler Bündnisses.
Die künstlerische Leitung der documenta fifteen positionierte sich eindeutig:
„Grundlage der documenta fifteen ist die Meinungsfreiheit einerseits und die entschiedene Ablehnung von Antisemitismus, Rassismus, Extremismus, Islamophobie und jeder Form von gewaltbereitem Fundamentalismus andererseits. Das Recht aller Menschen auf ein selbstbestimmtes Leben in Frieden, Würde und Sicherheit ist für das Team der documenta fifteen elementar.“ (Erklärung vom 19. Januar 2022)
Aber die Debatte ging und geht munter weiter, befeuert auch durch einen zehnseitigen offenen Brief von Künstlerkollektiven, die zur documenta fifteen eingeladen sind.
Zu der ganzen Debatte bleibt einiges nachzutragen:
Der Hauptvorwurf, das zur documenta fifteen eingeladene palästinensische Künstlerkollektiv, insbesondere sein Sprecher, sei antisemitisch, ist unhaltbar. Das haben u.a. die Kasseler Lokalzeitung HNA und die Berliner Zeitung in sorgfältigen Recherchen nachgewiesen. Es ist jedoch nicht erkennbar, dass dieser Nachweis in der weiteren öffentlichen Debatte überhaupt eine Rolle spielt.
Schwieriger ist für Deutsche die Debatte um BDS. Der Verfasser denkt, dass ein Deutscher dem BDS niemals zustimmen kann, wie kritisch er auch immer die klar völkerrechtswidrige Siedlungspolitik Israels in den besetzten Gebieten beurteilt. Die Nazis hatten ja die Judenverfolgung u. a. mit dem Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte begonnen. Überhaupt bleibt die Frage, wie sinnvoll Boykotte sind, was sie zu einer Problemlösung leisten. Und ist es nicht ein Widerspruch, den gegen Israel gerichteten Boykott–Aufruf zu kritisieren und ihn dann mit einem anderen Boykott– Aufruf zu beantworten? Hat nicht „GG 5.3 Weltoffenheit“ recht, dass man nur dem entgegentreten kann, was man kennengelernt hat?
Für die documenta jedenfalls (und überhaupt für den Kunstbetrieb in Deutschland) lässt sich das Problem nicht durch Verbote lösen. Das ist inzwischen auch gerichtlich klargestellt. Also muss es, wenn die documenta fifteen Anlass dazu gibt, eine zivilgesellschaftliche, vielleicht auch eine heftige Debatte geben. Ja, „we need to talk“, wir müssen diese Kontroverse austragen, einander zuhören, hoffen, dass wir die besseren Argumente haben und dass sie etwas bewirken. Was ist denn die Alternative? Für die documenta gibt es keine – sonst gäbe es zukünftig keine documenta als Forum der Weltkunstgemeinde.
Diese Debatte wird nun nicht im Vorfeld der documenta fifteen, sondern erst während des Weltkunstereignisses in genauer Kenntnis der Ausstellung geführt werden können. Der Zentralrat der Juden hat die Zusammensetzung der Podien der von der documenta geplanten drei Diskursveranstaltungen kritisiert und wollte wohl Einfluss auf die Auswahl der Teilnehmer/-innen nehmen. Einige Teilnehmer haben wohl auch wegen dieses Streits abgesagt. Es war ein Fehler der documenta fifteen, im Vorfeld der Ausstellung diesen Diskurs zu planen. Auf welcher Basis denn? Man hätte sich dieses mediale Unglück ersparen können.
Dahinter aber stecken zwei viel grundsätzlichere und viel gefährlichere mögliche Konflikte:
Die ganze Debatte hat mit dem Konzept der documenta fifteen überhaupt nichts zu tun. „Für die documenta fifteen haben ruangrupa und das künstlerische Team Positionen eingeladen, die sich im Sinne der lumbung–Praxis mit künstlerischen Mitteln für ihre jeweiligen lokalen Kontexte engagieren. Die Künstler*innen werden dabei nicht nach dem Kriterium eingeladen, ob sie sich als apolitisch oder einer bestimmten politischen Richtung zugehörig verstehen. In der Akzeptanz der Komplexität unserer Gegenwart macht sich die documenta fifteen mit keiner politischen Bewegung gemein, betont aber das Recht aller Menschen, sich für ihre Rechte und gegen Diskriminierung einzusetzen.“ (Erklärung vom 19.Januar.2022)
Wir haben der documenta fifteen diese Debatte, die – aus verständlichen Gründen – besonders in Deutschland geführt wird, aufgezwungen. Sind wir überhaupt in der Lage und bereit, uns der documenta fifteen und ihrem Anliegen zu öffnen?
Und noch grundsätzlicher: Alle documenta–Ausstellungen seit der d 10 beanspruchten, Weltkunstausstellung zu sein. Sie wurden bestimmt durch die Perspektive und Maßstäbe des globalen Nordens, genauer: seines westlichen Teils. Der globale Süden in all seiner Komplexität blieb Objekt der Betrachtung. Dieses Mal, zum ersten Mal, ist es umgekehrt: Der globale Norden ist Objekt, die Perspektive und die Maßstäbe bestimmt ein Kollektiv aus dem globalen Süden. Halten wir das aus? Die Antwort auf diese Frage entscheidet darüber, ob es in Zukunft noch eine globale documenta in Deutschland geben kann, vielleicht ob es überhaupt weiter ein Forum der globalen Kunstgemeinde geben kann. Sollte die Antwort „Nein“ lauten, müsste man noch viel mehr um den Zustand der Welt fürchten als ohnehin schon. Deshalb sollten wir uns mit allen Mitteln, die das Grundgesetz zur Verfügung stellt, für ein „Ja“ einsetzen.