Bürger und Besucher berichten in mündlichen und schriftlichen Beiträgen über ihre Erfahrungen auf der documenta fifteen. Sie sind frei in der Wahl ihrer Route, sie urteilen unabhängig und subjektiv.
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Nachlese 1
Achim Müller
Auf den Spuren der documenta fifteen in der Vorweihnachtszeit
Am 6. Dezember 2022 fahre ich erneut nach Kassel. Zweieinhalb Monate nach dem Ende der documenta fifteen ist es eine Suche nach Spuren und einer neuen Antwort in den Wahrnehmungen, den Erinnerungen von Menschen in Kassel und im urbanen Raum, im Stadtbild. Es ist eine erste Annäherung an ein Phänomen: Mit dem jeweiligen Ende der documenta verwandelt sich die Stadt über Nacht zurück in ihren „Normalzustand“ – der nordhessischen Provinzstadt von herbem Charme. Auch diesmal?
Ich beginne die Recherche am ruruHaus, also an dem Ort in Kassel, den ruangrupa vor drei Jahren als ersten in Kassel mit ihrem Lumbung-Gedanken „besiedelt“ hatte. Während der documenta fifteen war hier ein quirliger Begegnungs-, Orientierungs- und Ausgangsort für all die Besucher, die die documenta in diesem Sommer angezogen hat, entstanden. Für einen Sommer lang avancierte das ehemalige Sportkaufhaus zum „Wohnzimmer“ der Stadt und der globalen Kunstwelt zugleich.
Nun wird der Blick auf die farbfrohe Grafik, die von der documenta fifteen geblieben ist, abgelenkt von der großen Rutschbahn auf der Treppenstraße – wegen Sparmaßnahmen zwar ohne Eis, aber freudig belebt und laut.
Im ruruHaus selbst ist ein Impfzentrum eingerichtet worden, ganz im Gegensatz zum Sommer fast unbesucht. Rund um das Gebäude pulsiert die Einkaufsfußgängerzone, der Weihnachtsmarkt, und auf dem Friedrichsplatz, vor dem Fridericianum mit wieder würdevoll weißem Säulenportal ist das riesige gelb-schwarze Zelt des Artistenfestivals Flic Flac fast fertig.
Im Zentrum: erste Straßenbegegnungen
Die Sorgen und Vergnügungen des Alltags haben das Leben im Zentrum Kassel also wieder fest im Griff – was auch im Verhalten der Passanten direkt spürbar ist: Während im Sommer fast alle Angesprochenen für ein Interview zur documenta zu gewinnen waren und sie in der Regel auch besucht hatten, wollen im Dezember nur die wenigsten angesprochen werden. In der Regel eilen sie im vorweihnachtlichen Einkaufsstress vorüber oder möchten nicht vom wärmenden Glühwein abgelenkt werden. Documenta fifteen – tempi passati?
Die Aussagen der zu einem Gespräch Bereiten zeichnen ein nüchternes und eher verhaltenes Bild: neben Ablehnung aufgrund der Antisemitismus-Vorwürfe oder wegen eines zu starken Fokus darauf, wegen zu wenig „schöner“ Kunst findet sich aber auch Wohlwollen wegen der politischen Haltung, der Lebendigkeit und der Zugänglichkeit der im Sommer gezeigten Kunst: geteilte Meinungen bei den Auskunftswilligen
Im Osten: der zweite Befragungstag
Der zweite Nach-documenta-Erkundungstag beginnt in Bettenhausen mit den Spielstätten, in denen zum Höhepunkt im Sommer die Besucherschlangen häufig die Suche nach den Orten erleichterten. Nun ist es hier winterlich grau, aber anders als im Weihnachtseinkaufstrubel der Innenstadt ist die Gesprächsbereitschaft größer, seien es Wartende an der Straßenbahnhaltestelle, Betreiber von Spielstätten, Obdachlose oder Tankstellenkunden. Die Stimmen reichen von wohlwollender Einordnung der Debatten in internationale Diskurse über fröhliche Erinnerung an die Stimmung der Orte bis zum kategorischen „Die schlimmste documenta jemals, was haben die sich dabei gedacht?“. Gemischte Gefühle, gemischte Erinnerungen!
Die sichtbaren Spuren sind rar: ein von den Künstlern zurückgelassenes Bild im Hallenbad Ost, nun wieder Kreativoffice und Eventlocation, die mit Graffiti zu verwechselnden Sprühzeichnungen beim Hübner-Areal.
Am Sandershaus und bei St. Kunigundis sind die Spuren dagegen gründlich getilgt. Wie in den Aussagen des Tankstellenkunden spürbar, gehen auch hier die Alltagssorgen deutlich vor.
Am Fluss und um den Kulturbahnhof herum
Ein ähnliches Bild zeigt sich an der Fulda: Die kinderfreundliche Kletterlandschaft am Bootshaus Ahoi – durch das verschlossene Tor sind lediglich ein paar Pfosten zu sehen – ist ebenso Geschichte wie die Verweilangebote am gegenüberliegenden Ufer. Die Spitzhacke von Claes Oldenburg erzählt wieder ganz alleine von vergangenen documentas und ihrer heimlichen Beziehung zum Herkules.
Weiter geht es, zu den Werken früherer documentas – dem Obelisken der d14 und dem „Man walking to the sky“ am Kulturbahnhof. Feste Fermente der documenta fifteen nirgends.
Selbst das skandalumtoste WH 22 und sein so populärer, gern besuchter Innenhof wirken wie ein fest verriegeltes Paradies. Bonjour tristesse!
Schließlich führt der Weg zum für diesen Tag letzten Ortsbesuch, dem Trafohaus, während der documenta eine weiterer Ort außerhalb des klassischen Ausstellungsbetriebs. Hier gibt es Spuren, liegen- und stehengelassene Gegenstände, Zeichnungen, QR-Codes.
Ohne das dazugehörige lebendige soziale, künstlerische Ereignis sind sie mehr wie Zurückgelassenes denn wie ein Werk für die Kassel, atmen sie eher Achtlosigkeit denn Achtsamkeit.
Dazu passend hat eine Passantin an der Straßenbahnhaltestelle von der documenta fifteen nur vom Hörensagen etwas mitbekommen: Während die Welt für die documenta nach Kassel kam, war sie größtenteils zur Arbeit nach Nordrhein-Westfalen, und hat die documenta auch in ihrer Zeit in Kassel nicht besucht.
Vom Wesertor zum ICE-Bahnhof: der dritte Tag, kein Echoraum
Am letzten Tag geht es zu einem weiteren „Außenort“: dem Wesertor und dem dortigen Stadtteilzentrum. Keine „künstlerischen“ Spuren – aber in den Gesprächen sind konkrete kleine Arbeiten für die documenta und die lebhaften Veranstaltungen in Erinnerung geblieben.
Der letzte Weg durch die Innenstadt, langsam in Richtung ICE-Bahnhof Wilhelsmhöhe wird dann auch forscherisch zu einer bemerkenswerten Abschiedstour: Auf der gesamten Strecke finden sich keine Gesprächspartner, die an einem grauen Dezember-Alltags-Nachmittag über die documenta fifteen im vergangenen Sommer sprechen möchten. Auch das bedeutet Normalität.
Ein erstes Resümé
Was also war noch zu finden von der documenta fifteen mitten im Advent? Im Stadtraum eher zufällig und absichtslos Zurückgebliebenes. Bei den befragten Menschen die aus den Interviews während der documenta im Sommer vertraute Mischung von positivem – starke politische Stellungnahme, leicht zugängliche Kunst aus anderen Regionen, lebendigen Begleitveranstaltungen – bis zu den bekannten Kritikpunktenn – Antisemitismus, verpasste Möglichkeiten für Dialoge, zu wenig „schöne“ Kunst im öffentlichen Raum. In Unterschied zu den Kunstinteressierten im Sommer jedoch war bei den „normalen“ Menschen in Kassel aber oft auch eine deutliche Distanz zur documenta spürbar. Diese auf Bürgerstimmen und urbaner Sichtbarkeit fokussierte Nachlese mag nur den überraschen, der den „Mythos documenta“ oder Kassel nicht wirklich kennt, der vielleicht eine übergroße, zu optimistische Erwartung an die „Nachhaltigkeit“ künstlerisch künstlerisch-kultureller Großereignisse hegt. Die documenta bleibt über ihre No. fifteen hinaus ein unvergleichbares, nur mit einem Ort verbundenes, sich selbst zeugendes System. Was vom Nachhaltigkeitsanspruch und „Ekosystem“ ruangrupas, dem eher auf den zweiten oder dritten Blick Sichtbaren Bestand hat, soll eine „Nachlese 2“ Anfang 2023 herausfinden, in der es um die mit der documenta fifteen verknüpften Projekte und Initiativen gehen wird.
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Abschied, Kehraus
Achim Müller
Das letzte documenta-Wochenende
Noch einmal Besucherbefragung, noch einmal die documenta fifteen life erleben. Die erste Überraschung: Es ist etwas ruhiger als noch am Wochenende davor, selbst Samstag Mittag sind die Schlangen vor Fridericianum und documenta-Halle überschaubar. Es ist spürbar anders: alles ruhiger, fast schon melancholisch.
Nach dem freien Treibenlassen die Woche zuvor will ich diesmal vor allem kleinere Orte abseits des Zentrums erkunden. Was für Menschen finden sich an den Stätten, die man auf-suchen muss, auf die man nicht zwangsläufig stößt, wenn man am Friedrichsplatz aus der Straßenbahn steigt? Sind die Erwartungen und Erfahrungen hier „spezifischer“, so wie man die Orte mit einem spezifischen Interesse, einer bestimmten Agenda erkunden will?
Los geht es im Norden der Innenstadt im WH 22, nahe am „Kulturbahnhof“. Zunächst übersehe ich den Aufsteller der documenta fast zwischen Schildern und Aufstellern von Imbissbuden und anderen kleinen Geschäften darum herum, die documenta scheint hier an der Peripherie tatsächlich fast bis zur Übersehbarkeit mit dem „Ökosystem“ der Stadt Kassel verwachsen – auch im Innenhof, wo der Biergarten optisch präsenter und mindestens so gut besucht ist wie die Ausstellungsräume selbst. Die Vermutung von spezifischeren Perspektiven scheint sich zunächst zu bestätigen: In den beiden Interviews mit insgesamt vier Personen werden die Antisemitismus-Debatten angesprochen, reflektiert – hängen bleibt der Rückblick eines Interviewten, der die documenta wegen der Vorwürfe lange nicht besucht hat, jetzt aber feststellt, dass man sie dennoch hätte besuchen sollen, um alternativen Eindrücken eine Chance zu geben.
Als zweite Station geht es zur Hafenstraße 76. Ein Ort zum Stöbern in Projektwelten – auch für meine neunjährige Tochter, die auf der Suche nach Entdeckungen durch die Räume streift und auch in einigen Winkeln fündig wird. Das Publikum ist hier gefühlt internationaler – zumindest vier meiner fünf Gesprächspartner sind aus dem Ausland angereist – und mit einem gezielten Interesse an den hier gezeigten Projekten und Kollektiven. Dementsprechend positiv die Resonanz, genau das Erwartete hier zu finden.
Aber auch hier klingt der Tag passend zur schon mittags gespürten Abschiedsstimmung relativ ruhig aus. Als ich gegen 19:00 in der Abenddämmerung in meine Unterkunft in einem Dorf südlich von Kassel fahre, ist der Ort bereits weitgehend verlassen.
Am nächsten Morgen, dem wirklich letzten Tag der documenta fifteen, hat sich das Wetter der Stimmung angepasst: ein wirklich herbstlicher Ausklang, es ist kalt und etwas regnerisch. Erster Anlaufpunkt ist noch einmal das ruruHaus für zwei Interviews mit Menschen, die sonst weniger Kunst wahrnehmen, aber von der documenta mobilisiert wurden: Publikumsentwicklung aus dem Bilderbuch!
Dann zu einer „Außenstation“, dem Boosthaus Ahoi – atmosphärisch eine künstlerisch-soziokulturelle Erlebnislandschaft mit Kletterwänden, wieder auch für Kinder geeignet. Angesichts des Wetters ist es aber leer, das Floß ist vertäut. Hier muss es schön gewesen sein. Gegenüber hätte das ZK/U mit seinem „Citizenship“ angelegt, wenn es nicht vorher wegen Niedrigwasser auf der Weser nahe Rinteln gestrandet wäre. In den beiden Interviews viel Reflexion, eine Generalabrechnung zweier ob der fehlenden echten Kunst und tiefen Auseinandersetzung enttäuschte Kasseler – und zwei Brasilianerinnen, die die Kunst zwar genießen, sich aber mehr Leitsystem und Corporate Design gewünscht hätten.
Zum Finale noch ein als Höhepunkt empfundener Außenpart im Kasseler Osten: die Kirche St. Kunigundis. Auch hier gibt es an diesem letzten Tag zwar keine Schlangen, aber zahlreiche andächtig-interessierte Besucher. Die beiden letzten Interviews sind noch einmal positiv geprägt von der Vielfalt der Orte – und der Veranstaltungsformate der letzten Tage.
So haben die letzten beiden Tage tatsächlich die erhoffte Ausdifferenzierung in der Wahrnehmung der documenta fifteen durch ihre Besucher erbracht: Mehr wohlwollende, weniger hochkulturaffine Besucher um dem Friedrichsplatz herum einerseits, mehr politisches Bewusstsein, gezielte Suche von Kollektiven und ihren Positionen, größere Anteile aus dem Ausland gezielt angereister Besucher bei den documenta-Orten an der „Peripherie“ andererseits.
Diese differenzierten, in ihren heterogenen Erwartungshaltungen heute im Hochkulturbetrieb kaum zu findenden Publika verwandelten sich am Abend noch einmal in eine homogene Fangemeinde – sei es, weil vorwiegend die Kasseler Stadtgesellschaft zusammengekommen war, sei es, weil ein paar hundert Menschen artikulieren wollten, was der politischen Verantwortlichen kaum noch möglich schien: sich stilvoll zu verabschieden und Danke zu sagen für 100 bewegte, kontroverse, erhellende und erlebnisreiche Tage. Im Abschiednehmen spiegelte sich noch einmal die ganze emotionale Bandbreite dieser denkwürdigen documenta: heitere Trotzigkeit, harsche Kritik, Erleichterung, es endlich geschafft zu haben, Feierlaune trotz alledem!
Diese gemischten Gefühle offenbarten sich nach 19 Uhr im und am ruruHaus: Kehraus mit Weingläsern, letzte Buchkäufe, Teile von ruangrupa und seinem „Curatorial Team“ stimmten sich für die Abschlussveranstaltung vor dem Fridericianum ein. Ab 19:30 Uhr begann sich der Friedrichsplatz zu füllen, eine Blaskapelle sorgte für Stimmung, man sammelte sich, lokale Prominenz – kein Wiesbaden, kein Berlin. Oben auf den Treppenplateau des Fridercianums beginnt nach 20 Uhr, dem offiziellen Ende der documenta fifteen, ein sehr spezielles Event: halb förmlicher Abschlussakt mit resümierender Rede des Obergürgermeisters, halb launig-fröhlich performativer Schlussakt mit ruangrupa, den Künstler-Kollektiven und den documenta-Teams. Ein echtes Kontrastprogramm: ein nur allmählich Form und rhetorische Fassung findender Oberbürgermeister, danach ausgelassen mit der Stadtgesellschaft rappende Künstler. Für eine halbe Stunde scheinen trübes Wetter, harte Auseinandersetzungen und mediale Untergangsszenarien im ausgelassenen Kehraus verschwunden zu sein.
Dies galt auch für die Abschlussparty der Künstler, Mitarbeiter und Freunde im Kulturbahnhof zwischen Gleisen, Bahnsteigen, ehemaligen Läden und Wartehallen: Unglaublich viel junges Volk wie aus einer Diversity-Utopie, die documenta-Organisation, der ganze große Apparat klassenlos feiernd vereint!
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Heinz-Walter Große, ehemaliger CEO B.Braun Melsungen
Lumbung calling: ein Treffen mit ruangrupa
Montagvormittag, das Treffen im ruruHaus mit Reza und Andan ist seit einiger Zeit abgesprochen. Der Countdown läuft.
11:00 Uhr, ich erhalte die Nachricht, dass ein Treffen wegen wichtiger Termine erst am Nachmittag möglich ist.
Zwischenspiel, ich beobachte das quirlige Treiben im ruruHaus, viel Leben, lockere Atmosphäre im Kasseler „Wohnzimmer“. Urbanität wie aus dem Bilderbuch!
15:00 Uhr, tatsächlich – zuerst kommt Reza und dann etwas später auch Andan. Wir hatten uns vor einigen Wochen schon einmal in einer größeren Gruppe getroffen, daher zunächst die Frage „Wie geht es euch?“ Wie aus der Pistole geschossen antwortet Andan „Müde, aber glücklich!“
Man merkt es, beide vermitteln einen entspannten Eindruck, und doch ist ihre Aufmerksamkeit nicht wirklich auf mich konzentriert. Sie wirken etwas zerfahren.
Da hilft auch nicht, dass ständig Personen in den Raum kommen, die entweder auf Reza oder Andan zugehen und sie herzlich, meist mit Umarmung, begrüßen.
Mir werden diese „Freund*innen“ jeweils vorgestellt, ein Künstler aus Japan, eine Studentin aus Israel, eine aus Frankreich, ein weiterer Künstler, ein Mitarbeiter der documenta usw.
Es zeigt, wie vernetzt beide sind und wie sie sich auf jede Begrüßung konzentrieren und sie genießen – nur unserem Gespräch tut es nicht so gut, es will oder kann nicht so richtig in Gang kommen. Also klären wir erst einmal die Verkehrsformen: Reza lässt sich mit Vornamen anreden, er selbst spricht aber Andan mit dessen Nachnamen an. Das sei nur möglich, weil man lange miteinander und intensiv vertraut sei. Nun kenne ich Andan nicht wirklich so intensiv und schon gar nicht lange, aber so sagt er, ich solle ihn auch mit Andan anreden. Das Ganze wird mir nicht so richtig klar, und trotzdem frage ich, ob sie das deutsche „Du“ kennen. Ja natürlich, antworten sie, sie sind ja seit 2019 in Kassel. Und ich erkläre, „Walter“ sei mein Name. Etwas muss schiefgelaufen sein, da man mir immer noch unter „Herr Grosse“ schreibt.
Ehe wir dann tiefer ins Gespräch kommen, greift einer der beiden in seinen Rucksack und übergibt mir ein indonesisches Batik-Shirt. Welch freundliche Geste, ich kenne diese Shirts von einer früheren Reise nach Indonesien. Freue mich!
Wir beginnen „Lumbung“ zu diskutieren, und ein zentraler Aspekt dreht sich um die Frage nach hierarchischer Organisation, und wer trägt im Kollektiv Verantwortung. Man arbeite ohne Hierarchien – alle sind gleich. Gut! Aber wer übernimmt dann welche Verantwortung? Meine Erläuterung, dass ich mir funktionierende Organisationen, insbesondere in der Wirtschaft, ohne Hierarchie nicht vorstellen kann und es eben auch klar geregelte Verantwortungen geben müsse, wird offensichtlich zustimmend zur Kenntnis genommen. Aber das sei bei ruangrupa eben anders – aber wie? Das wird mir nicht wirklich klar, und da kommen wir bei der documenta fifteen schon an einen Knackpunkt. Muss es nicht klar definierte Verantwortungen geben? Wer legt die fest? Wer übt welche verantwortlichen Schritte aus, und ist man dann beispielsweise bei der Auswahl und Beurteilung von Künstlern und Kunstwerken in der Gefahr zu oktroyieren oder gar zu zensieren?
Eine vielschichtige, interessante Unterhaltung – ohne Ergebnis. Sie lehnen jedenfalls in ihrer Arbeit eine hierarchische Ordnung ab, wie steht es dann aber mit der Verantwortung? Auch ich habe noch keine Antworten. Also, wir müssen in Kontakt bleiben …
Aber die Geschichte geht noch weiter, Ulf kommt dazu, ein documenta-Fotograf. Auch er wird herzlich begrüßt. Ulf erklärt, er sei von Beginn an dabei und in regelmäßigem Austausch mit den verschiedensten Künstlern. Er vermittelt den Eindruck „Ich lebe documenta“. Der Bericht von seinen Gesprächen mit vielen documenta-Besuchern soll mir klar machen, dass die aktuellen offiziellen Diskussionen um Antisemitismus und Postkolonialismus nichts mit der Wahrnehmung der breiten Schar von Besuchern zu tun hat. Er ist begeistert, was er alles bildlich festhalten konnte, aber es ist klar, es ist seine Schilderung und stark von seinen Interessen geprägt. Trotzdem begeistert mich sein Engagement! Super!
Ich gebe nicht auf. Wir versuchen noch eine wenig „Lumbung“ zu diskutieren, Reisscheune, Humor, Transparenz … Aber beide, Reza und Andan, haben weitere Termine. Sie sind noch voll bei der fifteen. Wir vereinbaren, dass wir unser Gespräch über die documenta hinaus fortführen wollen. Reza will auf jeden Fall zunächst in Deutschland tätig sein, aber auch Andan will nach einer Reise in die Heimat wieder in Kassel aktiv bleiben. Na, das kann doch noch spannend werden, wir werden sehen!
Auf dem Heimweg beginnt das Nachwirken, Einordnen, Reflektieren.
Ich habe außergewöhnlich freundliche Mitglieder der ruangrupa-Gruppe kennengelernt, die eine Beziehung zu Kassel aufgebaut haben. Ob sie in Deutschland und unserer Kultur wirklich angekommen sind, nein, das glaube ich nicht. In den Konflikten während der documenta fifteen ist unsere deutsche Kultur, die ich gern mit „striktem Denken“ bezeichne und die so oft keine Abweichungen nach links, rechts, oben, unten zulässt, auf Personen getroffen, die aus einem gänzlich anderen Kulturkreis kommen. Eigentlich extrem spannend, aber diese Spannung hat keine Seite in den Konfliktsituationen ausgehalten. Mir hat die heutige Begegnung viel Spaß bereitet, und sie erinnert mich an meine Beschäftigung in den vergangenen Jahren unter dem Thema „How to say NO!“ in verschiedenen Kulturkreisen. Auch dabei habe ich viele deutsche Kollegen erlebt, die unseren Umgang mit dem Thema sehr einseitig beantworten. Nein ist ein Nein, und das sagt man deutlich. Aber sorry, so tickt eben nicht die ganze Welt! Deshalb ist eine Bereitschaft, sich solchen interkulturellen, auch kontroversen Themen zu stellen, dringend notwendig. Eben gerade in der weiteren Aufarbeitung der documenta fifteen. Dazu wünsche ich mir einen toleranten und respektvollen Umgang!
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Achim Müller
Forscher und Reporter
An ihrem vorletzten Wochenende erkunde ich die documenta fifteen noch einmal mit den Augen eines Forschers und Reporters. In der Tradition der Feldforscher der Chicago School gilt es eine Bestandsaufnahme der Stimmung rund um die documenta vorzunehmen. Basierend auf den Erfahrungen der Besucher, der Stimmung und der Atmosphäre, die daraus entsteht, aufgenommen mit Interviews und Beobachtungen vor Ort, bei den Ausstellungen oder im öffentlichen Raum.
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Wanderungen durch die documenta-Stadt (16.-18.9.2022)
Freitag – Ankommen und Spannung
Am Freitagvormittag des vorletzten Wochenendes der documenta fifteen komme ich am Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe an. Bis Sonntagnachmittag erwarten mich 51 Stunden auf und mit der documenta und ihren Besuchern. In einer Mischung aus Reporter, Beobachter und Interviewer versuche ich, ein Stimmungsbild zur documenta zu ermitteln: Wie erleben die Besucher die documenta, was hat sich verändert seit dem Sommer, als ich Anfang Juli das letzte Mal hier war?
Im zugigen Bahnhof Wilhelmshöhe suche ich nach den unverwechselbaren Plakaten der documenta, einer ersten Resonanz der Ausstellung – die ersten Indizien finde ich erst auf dem Bahnhofsvorplatz, bei den Straßenbahnen, die zum ersten documenta-Zentrum an den Friedrichsplatz führen.
Während ich mich noch zu erinnern versuche, ob die documenta in der Hitze des Hochsommers an diesem typischen Anreiseportal mit ihren Plakaten präsenter war, treffe ich in der Straßenbahn in das Stadtzentrum dann auf die ersten untrüglichen Zeichen des ungebrochenen Publikumszuspruchs: Mit jedem Halt füllt sich die Tram mit für Tagestourismus gerüsteten Menschen, um sich am Friedrichsplatz dann weitgehend zu leeren. Ich folge den Aussteigenden und sehe ihnen dabei zu, wie sie zu nahezu gleichen Teilen zum ruruHaus und zum Friedrichsplatz mit Fridericianum und documenta-Halle streben, mal mit Blick auf die documenta-Karten, mal bereits ortskundig. Vor dem Portal des Fridericianum ist am Freitagvormittag, mitten in der Arbeitszeit, bereits reges Treiben.
Auch die nächsten beiden Stationen, ruruHaus und Stadtmuseum, bestätigen den ersten Eindruck und bekräftigen die Nachrichten über die weiterhin guten Besuchszahlen der documenta: lebhafter Betrieb und gute Laune. Ein kurzes Gespräch mit dem Einlasspersonal des Stadtmuseums ergänzt den Befund: Die Stimmung der Besucher sei gut, Fragen oder Kommentare zu den Antisemitismus-Vorwürfen gebe es hier nicht.
Nach diesem ersten Herantasten und Beobachten starte ich in die Gespräche mit Besuchern der documenta – von der Außensicht in die Innensicht. Vom ersten Gespräch an zeigt sich: Die Besucher reden gern über die documenta und ihre Erlebnisse beim Besuch. Über die folgenden drei Tage wird nur zwei Mal ein Gespräch abgelehnt werden – von einem Pärchen, das am Sonntagmorgen lieber frühstücken möchte, und einer Tochter, deren Mutter wegen Sprachproblemen kein Gespräch wünscht.
Das erste Interview auf den Stufen vor dem Fridericianum scheint der guten äußeren Atmosphäre zu widersprechen: Die beiden Gesprächspartner sehen Antisemitismus in Werken auf der documenta und sind enttäuscht über den Umgang damit. Letztlich wird dieses Gespräch an diesem Wochenende aber eines von nur zwei Interviews bleiben, in dem die Antisemitismusvorwürfe geteilt werden.
Ansonsten ist der Freitag auf der documenta wörtlich von eitel Sonnenschein geprägt, so dass sich viele gut gelaunt im Freien aufhalten, zum Beispiel im immer fast vollständig besetzten Bistro unterhalb der documenta-Halle.
Aber auch in den Ausstellungsräumen herrscht reges Leben, auch eine in der documenta-Halle stattfindende Präsentation ist gut besucht.
Insgesamt pendeln die Stimmen des ersten Tages zwischen Inspiration durch ungewohnte Sichtweisen, Interesse am anderen, Wohlwollen für den neuen Ansatz von ruangrupa, gemischt mit positiver Überforderung durch die Fülle einerseits und Kritik an zu wenig „Kunst“ von „Künstlern“ gegenüber dem Primat politischer Haltungen, Dilettantismus und der profanen fremden Lebenswelten andererseits.
Samstag – Kaleidoskop
Der Samstag wird ein randvoller Tag inmitten des vorletzten documenta-Wochenendes. Und genau so beginnt er: Ich gehe zum allmorgendlich stattfindenden Kick Start-Interview in das ruruHaus. Das „Wohnzimmer“ ist für dieses regelmäßige Gesprächsformat der documenta randvoll mit gutgelaunten Interessierten. Als das Interview mit einer Viertelstunde Verspätung ohne Nennung eines Grundes abgesagt wird, zerstreut sich die Menge ohne Murren – schon Spuren einer geänderten, weniger bürokratischen Lebensweise oder einfach nur Kultururlaubsentspanntheit?
Die ersten Gesprächspartner finde ich auch heute rund um den Friedrichsplatz. Schon am zweiten Tag verdichtet sich das Bild zu ersten Mustern, Mischungen und Nuancen zwischen wohlwollendem Interesse, sich gerne von der Menge überfordern lassen und Enttäuschung über zu wenig „Kunst“.
Auf der Suche nach Ergänzungen und Ausdifferenzierungen der Bestandsaufnahme mache ich mich auf den Weg in das Subzentrum Bettenhausen. Schon am Fridericianum gab es eine lange Schlange, aber hier wird die Anziehungskraft der documenta erst richtig deutlich: Das „Hauptquartier“ von Taring Padi im Hallenbad Ost wird geradezu überrannt, wie das Fridericianum – und auf dem nahegelegenen Hübner-Gelände warten geduldige Besucher.
Da ich die Kunst schon kenne, verzichte ich auf die Wartezeit – nach Auskunft eines Großvaters mit dem Enkelkind seiner in der Schlange wartenden Tochter am einzigen Kaffeestand zwanzig bis dreißig Minuten. Stattdessen führe ich weitere Gespräche, die ein differenziertes Bild vermitteln: Anknüpfend an Taring Padi und ihre Agit-Prop-Kunst steht am Hallenbad Ost der Blick des „globalen Südens“, aber auch die Debatte um das entfernte Plakat und die Antisemitismusvorwürfe mehr im Fokus – mit den gleichen Rollenverteilungen, wie sie Tania Bruguera jüngst in ihrem Interview in der Monopol aufgezeigt hat: Eine deutsche Gesprächspartnerin ist irritiert von der Schroffheit der Bildsprache und hat Verständnis für die vehementen Reaktionen, zwei Besucherinnen aus Kolumbien kritisieren die eingeengte Sichtweise und Kritik deutlich und solidarisieren sich mit dem offenen Brief der künstlerischen Leitung als Reaktion auf die aktuelle Empfehlung der Expertenkommission.
Auf dem Weg in das Stadtzentrum zurück messe ich die Stimmung mit einem etwas anderen Barometer: Currywurst essen im weniger schicken Teil der Kasseler Einkaufsmeile. Hier gibt es die freundlich-geschäftigen Bildungsbürger aus den Schlangen und Kunstorten kaum mehr – sie pendeln eher mit der Straßenbahn zwischen den Kunstorten und ökologisch korrekten Essensständen. Dafür viele Menschen mit sichtbar anderen ethnischen Hintergründen.
In diesem Umfeld hole ich mir dann auch den zweiten Korb des Wochenendes: Mutter und Tochter, die ich für ein Interview gewinnen will, sprechen beide Deutsch mit slawischem Akzent, die Mutter noch weniger als ihre Tochter. Nachdem die Tochter meine Fragen doch immer übersetzen muss, wollen sie doch nicht mit mir sprechen. Ich erfahre nur noch, dass die Tochter die documenta besucht hatte, die Mutter nicht.
Der Forschungstag endet mit einer schönen Form wirklicher Integration: Salsa-Unterricht und Tanz im ruruHaus. Trotz der nüchternen Architektur beste, vitale Stimmung, unterschiedliche Altersgruppen – über die Alltagskultur einer Alltagskultur im geteilten urbanen Raum, wie aus dem Bilderbuch.
Abends geht es dann mit dem Bus zum Airbnb in Lohfelden. In diesem Bus sind keine Menschen mehr, die ich am bisherigen Tag an den Standorten der documenta getroffen oder am nächsten Morgen mit Cappuccino am Nebentisch erwartet hätte. Der Rhythmus des Vororts: sonntags nur alle halbe Stunde.
Sonntag – Ausklang und Abreise
Am Sonntagmorgen geht es für das letzte Gespräche noch einmal zurück in das ruruHaus. Draußen regnet es, deswegen drinnen. So kann ich nicht nur einige letzte Interviews führen, sondern auch am diesmal stattfindenden Kick Start-Interview teilnehmen.
Als wäre es mit meiner Recherche abgestimmt, sprechen drei junge Menschen aus dem Führungsprogramm über ihre Vermittlungsarbeit. Das Gespräch zwischen ihnen wirkt wie ein Spiegel der Besucher-Statements in meinen bisher geführten Interviews: Es scheint der gemeinsame Nenner ihrer mit viel Begeisterung und Freude vorgestellten Ansätze, die Erwartungen der Besucher an den Besuch zu enttäuschen und ein Gefühl des Unwohlseins („Discomforts“) zu erzeugen. Unterschiedlich ist die Bereitschaft, dieses Gefühl aufzufangen – während ein Gesprächspartner ausdrücklich nicht versucht, die Verunsicherung aufzulösen, berichtet eine andere konkret, wie sie darauf hinwirkt, die Besucher einzubinden und die Eindrücke in der Ausstellung mit ihren Lebenswelten zu verknüpfen.
Im Publikum, wie in den meisten Interviews, scheint die eigene Verunsicherung jedenfalls tatsächlich in der Regel als Inspiration aufgenommen zu werden: Das Echo ist von wohlwollender Anteilnahme bestimmt, bis auf eine wütende Stimme, die sich über die Negativität des Besucherbildes beschwert.
Ein temporäres Resümee
Am Ende des facettenreichen ersten Forschungswochenendes stellt sich bereits ein intensives Stimmungsbild zwischen der documenta und ihren Besuchern dar: Die von der künstlerischen Leitung angestrebte Herausforderung des Künstler- und Kunstverständnisses sowie der Erwartungen daran, was eine Kunstausstellung ist, wird verstanden und angenommen – dass dies sowohl positiv wie negativ bewertet wird, ist realistisch betrachtet wenig überraschend.
Gemischte Gefühle verbinden sich durchgehend mit einer Neugier auf die anderen Perspektiven. Auch die von Kunstverständnis geprägten Gegenpositionen, die kuratorischen Dissonanzen, werden deutlich artikuliert.
Dafür scheint die von der künstlerischen Leitung beschriebene Beteiligung am Lumbung zu stark auf die Kollaboration unter den Künstlern und Kollektiven fokussiert gewesen zu sein. Es wäre interessant, noch einige ausgewählte Interviews mit Akteuren aus Kasseler Kooperationspartnern – Vereinen und ähnlichen – zu führen, um den Effekten der Berührung mit diesen Prozessen nachzuspüren.