Auf den Spuren der documenta fifteen in der Vorweihnachtszeit
Am 6. Dezember 2022 fahre ich erneut nach Kassel. Zweieinhalb Monate nach dem Ende der documenta fifteen ist es eine Suche nach Spuren und einer neuen Antwort in den Wahrnehmungen, den Erinnerungen von Menschen in Kassel und im urbanen Raum, im Stadtbild. Es ist eine erste Annäherung an ein Phänomen: Mit dem jeweiligen Ende der documenta verwandelt sich die Stadt über Nacht zurück in ihren „Normalzustand“ – der nordhessischen Provinzstadt von herbem Charme. Auch diesmal?
Ich beginne die Recherche am ruruHaus, also an dem Ort in Kassel, den ruangrupa vor drei Jahren als ersten in Kassel mit ihrem Lumbung-Gedanken „besiedelt“ hatte. Während der documenta fifteen war hier ein quirliger Begegnungs-, Orientierungs- und Ausgangsort für all die Besucher, die die documenta in diesem Sommer angezogen hat, entstanden. Für einen Sommer lang avancierte das ehemalige Sportkaufhaus zum „Wohnzimmer“ der Stadt und der globalen Kunstwelt zugleich.
Nun wird der Blick auf die farbfrohe Grafik, die von der documenta fifteen geblieben ist, abgelenkt von der großen Rutschbahn auf der Treppenstraße – wegen Sparmaßnahmen zwar ohne Eis, aber freudig belebt und laut.
Im ruruHaus selbst ist ein Impfzentrum eingerichtet worden, ganz im Gegensatz zum Sommer fast unbesucht. Rund um das Gebäude pulsiert die Einkaufsfußgängerzone, der Weihnachtsmarkt, und auf dem Friedrichsplatz, vor dem Fridericianum mit wieder würdevoll weißem Säulenportal ist das riesige gelb-schwarze Zelt des Artistenfestivals Flic Flac fast fertig.
Im Zentrum: erste Straßenbegegnungen
Die Sorgen und Vergnügungen des Alltags haben das Leben im Zentrum Kassel also wieder fest im Griff – was auch im Verhalten der Passanten direkt spürbar ist: Während im Sommer fast alle Angesprochenen für ein Interview zur documenta zu gewinnen waren und sie in der Regel auch besucht hatten, wollen im Dezember nur die wenigsten angesprochen werden. In der Regel eilen sie im vorweihnachtlichen Einkaufsstress vorüber oder möchten nicht vom wärmenden Glühwein abgelenkt werden. Documenta fifteen – tempi passati?
Die Aussagen der zu einem Gespräch Bereiten zeichnen ein nüchternes und eher verhaltenes Bild: neben Ablehnung aufgrund der Antisemitismus-Vorwürfe oder wegen eines zu starken Fokus darauf, wegen zu wenig „schöner“ Kunst findet sich aber auch Wohlwollen wegen der politischen Haltung, der Lebendigkeit und der Zugänglichkeit der im Sommer gezeigten Kunst: geteilte Meinungen bei den Auskunftswilligen
Im Osten: der zweite Befragungstag
Der zweite Nach-documenta-Erkundungstag beginnt in Bettenhausen mit den Spielstätten, in denen zum Höhepunkt im Sommer die Besucherschlangen häufig die Suche nach den Orten erleichterten. Nun ist es hier winterlich grau, aber anders als im Weihnachtseinkaufstrubel der Innenstadt ist die Gesprächsbereitschaft größer, seien es Wartende an der Straßenbahnhaltestelle, Betreiber von Spielstätten, Obdachlose oder Tankstellenkunden. Die Stimmen reichen von wohlwollender Einordnung der Debatten in internationale Diskurse über fröhliche Erinnerung an die Stimmung der Orte bis zum kategorischen „Die schlimmste documenta jemals, was haben die sich dabei gedacht?“. Gemischte Gefühle, gemischte Erinnerungen!
Die sichtbaren Spuren sind rar: ein von den Künstlern zurückgelassenes Bild im Hallenbad Ost, nun wieder Kreativoffice und Eventlocation, die mit Graffiti zu verwechselnden Sprühzeichnungen beim Hübner-Areal.
Am Sandershaus und bei St. Kunigundis sind die Spuren dagegen gründlich getilgt. Wie in den Aussagen des Tankstellenkunden spürbar, gehen auch hier die Alltagssorgen deutlich vor.
Am Fluss und um den Kulturbahnhof herum
Ein ähnliches Bild zeigt sich an der Fulda: Die kinderfreundliche Kletterlandschaft am Bootshaus Ahoi – durch das verschlossene Tor sind lediglich ein paar Pfosten zu sehen – ist ebenso Geschichte wie die Verweilangebote am gegenüberliegenden Ufer. Die Spitzhacke von Claes Oldenburg erzählt wieder ganz alleine von vergangenen documentas und ihrer heimlichen Beziehung zum Herkules.
Weiter geht es, zu den Werken früherer documentas – dem Obelisken der d14 und dem „Man walking to the sky“ am Kulturbahnhof. Feste Fermente der documenta fifteen nirgends.
Selbst das skandalumtoste WH 22 und sein so populärer, gern besuchter Innenhof wirken wie ein fest verriegeltes Paradies. Bonjour tristesse!
Schließlich führt der Weg zum für diesen Tag letzten Ortsbesuch, dem Trafohaus, während der documenta eine weiterer Ort außerhalb des klassischen Ausstellungsbetriebs. Hier gibt es Spuren, liegen- und stehengelassene Gegenstände, Zeichnungen, QR-Codes.
Ohne das dazugehörige lebendige soziale, künstlerische Ereignis sind sie mehr wie Zurückgelassenes denn wie ein Werk für die Kassel, atmen sie eher Achtlosigkeit denn Achtsamkeit.
Dazu passend hat eine Passantin an der Straßenbahnhaltestelle von der documenta fifteen nur vom Hörensagen etwas mitbekommen: Während die Welt für die documenta nach Kassel kam, war sie größtenteils zur Arbeit nach Nordrhein-Westfalen, und hat die documenta auch in ihrer Zeit in Kassel nicht besucht.
Vom Wesertor zum ICE-Bahnhof: der dritte Tag, kein Echoraum
Am letzten Tag geht es zu einem weiteren „Außenort“: dem Wesertor und dem dortigen Stadtteilzentrum. Keine „künstlerischen“ Spuren – aber in den Gesprächen sind konkrete kleine Arbeiten für die documenta und die lebhaften Veranstaltungen in Erinnerung geblieben.
Der letzte Weg durch die Innenstadt, langsam in Richtung ICE-Bahnhof Wilhelsmhöhe wird dann auch forscherisch zu einer bemerkenswerten Abschiedstour: Auf der gesamten Strecke finden sich keine Gesprächspartner, die an einem grauen Dezember-Alltags-Nachmittag über die documenta fifteen im vergangenen Sommer sprechen möchten. Auch das bedeutet Normalität.
Ein erstes Resümé
Was also war noch zu finden von der documenta fifteen mitten im Advent? Im Stadtraum eher zufällig und absichtslos Zurückgebliebenes. Bei den befragten Menschen die aus den Interviews während der documenta im Sommer vertraute Mischung von positivem – starke politische Stellungnahme, leicht zugängliche Kunst aus anderen Regionen, lebendigen Begleitveranstaltungen – bis zu den bekannten Kritikpunktenn – Antisemitismus, verpasste Möglichkeiten für Dialoge, zu wenig „schöne“ Kunst im öffentlichen Raum. In Unterschied zu den Kunstinteressierten im Sommer jedoch war bei den „normalen“ Menschen in Kassel aber oft auch eine deutliche Distanz zur documenta spürbar. Diese auf Bürgerstimmen und urbaner Sichtbarkeit fokussierte Nachlese mag nur den überraschen, der den „Mythos documenta“ oder Kassel nicht wirklich kennt, der vielleicht eine übergroße, zu optimistische Erwartung an die „Nachhaltigkeit“ künstlerisch künstlerisch-kultureller Großereignisse hegt. Die documenta bleibt über ihre No. fifteen hinaus ein unvergleichbares, nur mit einem Ort verbundenes, sich selbst zeugendes System. Was vom Nachhaltigkeitsanspruch und „Ekosystem“ ruangrupas, dem eher auf den zweiten oder dritten Blick Sichtbaren Bestand hat, soll eine „Nachlese 2“ Anfang 2023 herausfinden, in der es um die mit der documenta fifteen verknüpften Projekte und Initiativen gehen wird.