Das letzte documenta-Wochenende
Noch einmal Besucherbefragung, noch einmal die documenta fifteen life erleben. Die erste Überraschung: Es ist etwas ruhiger als noch am Wochenende davor, selbst Samstag Mittag sind die Schlangen vor Fridericianum und documenta-Halle überschaubar. Es ist spürbar anders: alles ruhiger, fast schon melancholisch.
Nach dem freien Treibenlassen die Woche zuvor will ich diesmal vor allem kleinere Orte abseits des Zentrums erkunden. Was für Menschen finden sich an den Stätten, die man auf-suchen muss, auf die man nicht zwangsläufig stößt, wenn man am Friedrichsplatz aus der Straßenbahn steigt? Sind die Erwartungen und Erfahrungen hier „spezifischer“, so wie man die Orte mit einem spezifischen Interesse, einer bestimmten Agenda erkunden will?
Los geht es im Norden der Innenstadt im WH 22, nahe am „Kulturbahnhof“. Zunächst übersehe ich den Aufsteller der documenta fast zwischen Schildern und Aufstellern von Imbissbuden und anderen kleinen Geschäften darum herum, die documenta scheint hier an der Peripherie tatsächlich fast bis zur Übersehbarkeit mit dem „Ökosystem“ der Stadt Kassel verwachsen – auch im Innenhof, wo der Biergarten optisch präsenter und mindestens so gut besucht ist wie die Ausstellungsräume selbst. Die Vermutung von spezifischeren Perspektiven scheint sich zunächst zu bestätigen: In den beiden Interviews mit insgesamt vier Personen werden die Antisemitismus-Debatten angesprochen, reflektiert – hängen bleibt der Rückblick eines Interviewten, der die documenta wegen der Vorwürfe lange nicht besucht hat, jetzt aber feststellt, dass man sie dennoch hätte besuchen sollen, um alternativen Eindrücken eine Chance zu geben.
Als zweite Station geht es zur Hafenstraße 76. Ein Ort zum Stöbern in Projektwelten – auch für meine neunjährige Tochter, die auf der Suche nach Entdeckungen durch die Räume streift und auch in einigen Winkeln fündig wird. Das Publikum ist hier gefühlt internationaler – zumindest vier meiner fünf Gesprächspartner sind aus dem Ausland angereist – und mit einem gezielten Interesse an den hier gezeigten Projekten und Kollektiven. Dementsprechend positiv die Resonanz, genau das Erwartete hier zu finden.
Aber auch hier klingt der Tag passend zur schon mittags gespürten Abschiedsstimmung relativ ruhig aus. Als ich gegen 19:00 in der Abenddämmerung in meine Unterkunft in einem Dorf südlich von Kassel fahre, ist der Ort bereits weitgehend verlassen.
Am nächsten Morgen, dem wirklich letzten Tag der documenta fifteen, hat sich das Wetter der Stimmung angepasst: ein wirklich herbstlicher Ausklang, es ist kalt und etwas regnerisch. Erster Anlaufpunkt ist noch einmal das ruruHaus für zwei Interviews mit Menschen, die sonst weniger Kunst wahrnehmen, aber von der documenta mobilisiert wurden: Publikumsentwicklung aus dem Bilderbuch!
Dann zu einer „Außenstation“, dem Boosthaus Ahoi – atmosphärisch eine künstlerisch-soziokulturelle Erlebnislandschaft mit Kletterwänden, wieder auch für Kinder geeignet. Angesichts des Wetters ist es aber leer, das Floß ist vertäut. Hier muss es schön gewesen sein. Gegenüber hätte das ZK/U mit seinem „Citizenship“ angelegt, wenn es nicht vorher wegen Niedrigwasser auf der Weser nahe Rinteln gestrandet wäre. In den beiden Interviews viel Reflexion, eine Generalabrechnung zweier ob der fehlenden echten Kunst und tiefen Auseinandersetzung enttäuschte Kasseler – und zwei Brasilianerinnen, die die Kunst zwar genießen, sich aber mehr Leitsystem und Corporate Design gewünscht hätten.
Zum Finale noch ein als Höhepunkt empfundener Außenpart im Kasseler Osten: die Kirche St. Kunigundis. Auch hier gibt es an diesem letzten Tag zwar keine Schlangen, aber zahlreiche andächtig-interessierte Besucher. Die beiden letzten Interviews sind noch einmal positiv geprägt von der Vielfalt der Orte – und der Veranstaltungsformate der letzten Tage.
So haben die letzten beiden Tage tatsächlich die erhoffte Ausdifferenzierung in der Wahrnehmung der documenta fifteen durch ihre Besucher erbracht: Mehr wohlwollende, weniger hochkulturaffine Besucher um dem Friedrichsplatz herum einerseits, mehr politisches Bewusstsein, gezielte Suche von Kollektiven und ihren Positionen, größere Anteile aus dem Ausland gezielt angereister Besucher bei den documenta-Orten an der „Peripherie“ andererseits.
Diese differenzierten, in ihren heterogenen Erwartungshaltungen heute im Hochkulturbetrieb kaum zu findenden Publika verwandelten sich am Abend noch einmal in eine homogene Fangemeinde – sei es, weil vorwiegend die Kasseler Stadtgesellschaft zusammengekommen war, sei es, weil ein paar hundert Menschen artikulieren wollten, was der politischen Verantwortlichen kaum noch möglich schien: sich stilvoll zu verabschieden und Danke zu sagen für 100 bewegte, kontroverse, erhellende und erlebnisreiche Tage. Im Abschiednehmen spiegelte sich noch einmal die ganze emotionale Bandbreite dieser denkwürdigen documenta: heitere Trotzigkeit, harsche Kritik, Erleichterung, es endlich geschafft zu haben, Feierlaune trotz alledem!
Diese gemischten Gefühle offenbarten sich nach 19 Uhr im und am ruruHaus: Kehraus mit Weingläsern, letzte Buchkäufe, Teile von ruangrupa und seinem „Curatorial Team“ stimmten sich für die Abschlussveranstaltung vor dem Fridericianum ein. Ab 19:30 Uhr begann sich der Friedrichsplatz zu füllen, eine Blaskapelle sorgte für Stimmung, man sammelte sich, lokale Prominenz – kein Wiesbaden, kein Berlin. Oben auf den Treppenplateau des Fridercianums beginnt nach 20 Uhr, dem offiziellen Ende der documenta fifteen, ein sehr spezielles Event: halb förmlicher Abschlussakt mit resümierender Rede des Obergürgermeisters, halb launig-fröhlich performativer Schlussakt mit ruangrupa, den Künstler-Kollektiven und den documenta-Teams. Ein echtes Kontrastprogramm: ein nur allmählich Form und rhetorische Fassung findender Oberbürgermeister, danach ausgelassen mit der Stadtgesellschaft rappende Künstler. Für eine halbe Stunde scheinen trübes Wetter, harte Auseinandersetzungen und mediale Untergangsszenarien im ausgelassenen Kehraus verschwunden zu sein.
Dies galt auch für die Abschlussparty der Künstler, Mitarbeiter und Freunde im Kulturbahnhof zwischen Gleisen, Bahnsteigen, ehemaligen Läden und Wartehallen: Unglaublich viel junges Volk wie aus einer Diversity-Utopie, die documenta-Organisation, der ganze große Apparat klassenlos feiernd vereint!