Rückblick auf die documenta fifteen, zwei Tage danach.
Dienstag, 27. September vormittags. Der Blick von der Kasse des Staatstheaters nach draußen rechts geht auf den gewundenen Vorbau aus ineinander verflochtenen Ruten, mittels dessen die documenta-Künstler die documenta-Halle einhundert Tage lang in eine Zauberhöhle verwandelt haben. Im Regen mutet er nun an wie der Eingang zu einem verlassenen Bibernest. Die documenta fifteen ist vorbei – und mit ihr ein Sommer, den wir Kasseler als einzigartig gastliches, sinnliches, aufregendes Fest erleben durften. Als lehrreiches auch: Kunst, die als quasi organisches Bindemittel von Lebens- und Arbeitsgemeinschaften, als Geisterbeschwörung, als Überlebenshilfe und politisches Agitationsmittel funktioniert und auch sehr lustig sein kann.

Ja, freilich: Es gab recht viele Videos in der Muttersprache der KünstlerInnen mit eingeblendetem Englisch zu sehen, für die jemand mehr Geduld, einen gesünderen Rücken und mehr Englischkenntnisse gebraucht hätte als ich. Und es gab auch als banal empfundene Beiträge. Aber „große Kunst“ war gar nicht der Maßstab für die Auswahl der Objekte. Sondern die Botschaft, was sie für ihre MacherInnen in deren – oft bedrohten oder prekären – Lebensumfeld bedeuten.
Im krassen Gegensatz dazu die schrillen Forderungen der organisierten Antisemitismus-Verfolger; postwendend zitiert und kommentiert von Teilen der – „Was mit Antisemitismus geht immer!“ – das Thema dankbar aufgreifenden Journaille, und leider auch der Kulturpolitik. Ich habe allein als Zeitungsleserin fünf deutsche Organisationen kennengelernt, die sich qua ihrer Existenz dem Schutz des Judentums und Israels verpflichtet fühlen und die sich, angesichts von zwei oder drei historischen Exponaten, in die man Antisemitismus hineindeuten konnte, reflexartig dermaßen aufregten, als ob mit deren Ausstellung schon das Existenzrecht des israelischen Staates in Frage gestellt werde. Sie forderten, mit wechselnder Lautstärke, mal die Entfernung der Exponate, mal den Rücktritt der Geschäftsführung, des Aufsichtsrats, des Kasseler Oberbürgermeisters oder die Schließung der documenta, am besten gleich für immer. Und das, ohne die documenta zumeist überhaupt besucht zu haben. Ich respektiere selbstverständlich die Existenz des Staates Israel; ich achte und schätze die gesellschaftliche Tradition und Kultur der jüdischen Glaubensgemeinschaft und bewundere, was ich an Lebensfreude, Klugheit, Eloquenz, Witz und Fähigkeit zur Selbstironie bei Juden und in der jüdischen Kultur erlebt habe.
Aber: Wo blieb das alles in diesem Sommer? Vor wenigen Tagen verlangte der Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses, getreulich zitiert in der Presse, zum Schluss der documenta 15 noch, die Politik müsse sich für die documenta fifteen entschuldigen, denn sie sei mitverantwortlich. Wie darf man sich das vorstellen? Claudia Roth entschuldigt sich beim Zentralrat der Juden? Der Bundestag bei der Knesset? Wüsste ich es nicht besser: Bei soviel alttestamentarischer Rechthaberei könnte man aus schierem Ärger zum Antisemitismus konvertieren.
Zur Zukunft des Formates „documenta“ ist alles Kluge bereits gesagt. Die documenta muss weiter in Kassel stattfinden. Die Stadt muss zu 50% Anteilseigner bleiben. Der Aufsichtsrat der documenta sollte keine politischen Richtlinien für die Bestellung der künstlerischen Auswahlkommission vorgeben; deren Mitglieder müssen das Kuratorium ihrerseits ohne politische Vorgaben völlig frei aussuchen können. Das von ihnen empfohlene Kuratorium muss die inhaltlichen Richtlinien für die Ausstellung frei und selbstverantwortlich definieren können und selbst für deren Einhaltung sorgen. Keine externen, von der Politik bestellten, als „Beirat“ daher kommenden Tugendwächter, weder bei der Auswahl der Kommission, noch gar für die künstlerische Leitung! Freilich: Ein Medienkonzept, ein Pressesprecher bzw. eine Pressesprecherin sind, wie sich jetzt gezeigt hat, für künftige documenten unverzichtbar. Eine Papparazzi-artige Pressejagd, wie sie unsere Gäste, die documenta-Künstler, und die bedauernswerte Geschäftsleitung der d15 ertragen mussten, ist 2027 um jeden Preis zu verhindern.