Am ruruHaus
Wie war es, was ist hängengeblieben?
Ambivalent. Voller Euphorie, bis zum zweiten Tag. Dann große Traurigkeit und die größte Traurigkeit, nachdem dann klar war, dass Sabine Schormann zurückgetreten ist. Danach waren zwei, drei Wochen, da mussten wir nach Motivation suchen, weiterzumachen. Das hat sich wieder normalisiert durch die vielen Kontakte, die zustande gekommen sind, mit Besuch, mit Gästen, mit Künstlern, mit den ruangrupas. Freunden, die bei uns zu Hause waren, die uns immer besuchen, wenn documenta ist. Alte Freunde, die gerne zu documenta-Zeiten da sind. Die kamen aus aller Welt: Mauritius, Australien, USA, Frankreich. Das war ganz schön, diesen Austausch zu haben. Es gab niemanden, der gemäkelt hätte. Viele haben vorher die Presse gelesen, oder haben mir vorher schon E-Mails geschickt, aus Frankreich oder aus den Staaten, aber haben diese deutsche Presselandschaft viel distanzierter gesehen, haben das nicht gleich übernommen, wie das in der Süddeutschen Zeitung zum Beispiel geschrieben wurde. Und haben schon gedacht: Da steckt noch irgendwas anderes dahinter.
I: Da gab es kein Mäkeln. Aber aus den Stimmen, die wir bisher gehört haben, gab es trotzdem Dissonanzen. War das spürbar? Wie wurde damit umgegangen?
Röse: Dissonanzen gab es wegen so Kleinigkeiten, die mit der Ausstellung selbst wenig zu tun haben, wie diese Fressmeile dort. Die immer unaufgeräumt war, dreckig war, hohe Preise. Da haben wir uns alle drüber aufgeregt, das war manchmal zu forsch. Ich weiß auch nicht, wer das organisiert hat. Das waren die Dinge, die nicht gefallen haben. Mit den Veranstaltungen, die nicht so gut kundgetan wurde, in Zeitungen oder so. Da mussten die Leute erstmal lernen, damit umzugehen, dass diese documenta doch eine etwas andere Organisationsform gewählt hat.
Das waren eher so Nebenschauplätze, würde ich sagen, die für solche Ausstellungen sein mögen. Das mit den Veranstaltungen habe ich eben schon versucht anzudeuten. Es gab so eine ganz andere Kommunikationsform auf dieser documenta. Wahrscheinlich so, wie sie in manch anderen Ländern heute auch üblich ist und vielleicht auch war. Also, von Mund zu Mund, und man weiß dann trotzdem, abends ist eine Menge los. Wir hatten einige Veranstaltungen hier, wo wir vormittags dachten, da kommen vielleicht zehn Leute, und dann waren da auf einmal 1.000 Leute für eine Modenschau in der Treppenstraße. Da war dann plötzlich ein Fest.

I: Dieser Pop Up-Gedanke ist schön. Ich diese Stimmen zur Zugänglichkeit von Informationen gerade auch von Besuchern, die von außerhalb kamen, gehört. Die zum Beispiel die Website als relativ schwer zugänglich beschrieben haben. Gerade auch für die Vorbereitung auf diese Ausstellung, die ja sehr inhaltlich fokussiert war. Wie haben Sie das erlebt?
Röse: Ich habe es einmal persönlich so erlebt, dass Informationen schlecht waren, dazu stehe ich auch. Die Kommunikationsabteilung hat praktisch gar nicht stattgefunden, obwohl die schon seit Jahren hier angestellt waren, hier leben und sehr viel enger Eingang in die Stadtgesellschaft hätten finden können. Die waren praktisch nicht anwesend. Und hätten auch für die Gesellschaft, für die sie gearbeitet haben, also die documenta gGmbH, besser tätig sein müssen. Ohne Frage! Wer nun daran schuld ist, interessiert mich nicht, aber das hat nicht stattgefunden. Das haben auch viele gemerkt, dass da anscheinend wenig Mut war, vielleicht auch Befähigung, sich der Öffentlichkeit zu stellen. Jemand, der in der Kommunikation ist, muss mit der Öffentlichkeit umgehen können. Nicht nur negative Dinge verbreiten, sondern auch mal positive. Positive Dinge sammeln. Das wurde in Summe gemerkt, dass da wenig passiert ist. Relativ vorsichtig ausgedrückt. Das war die schlechteste, eine ganz miserable Abteilung.
Die nächste Geschichte war mit den Führungen. Da gab es Unzufriedenheit mit den Sobat Sobats. Die wurden ja vorher alle ausgebildet von der extra angestellten Dame, und die ersten vier Wochen hörte ich nur, dass die vollkommen ahnungslos waren. Da habe ich auch die Loyalität, die Empathie und einfach auch das Interesse an der documenta vermisst. Ich glaube in Summe, die waren froh, dass sie einen Job hatten, aber die haben sich gar nicht darauf eingelassen. Wir, wir waren froh, auf der documenta zu arbeiten, aber nicht wegen des Geldes, sondern weil wir Informationen hatten. Wir konnten uns kundig machen, waren dabei. Das ist bei den Mitarbeitenden von der Sobat Sobat gar nicht rübergekommen. Vollkommen ahnungslos, was die Kunstwerke betrifft. Dann habe ich so Sachen gehört: „Ach, da müssen Sie mal auf dem Schild lesen, was da steht.“ Das geht nicht. Da muss sich dann wirklich diese Abteilung, Education nannte die sich glaube ich, anders aufstellen. Ich habe da manchmal, wenn Leute dort waren, wo die Führer nicht gekommen sind, eine Einführung gemacht. Das wurde sehr dankbar angenommen. Und das habe ich gerne gemacht, das hat doch Spaß gemacht. Weil da Interaktion stattfindet. Das ist doch das größte, auch für solche Sobat Sobats. Das haben die nicht begriffen – da in dieser Abteilung Education. Das sind doch die größten Multiplikatoren. Wir haben oft Firmengruppen und sogenannte VIPs durchgeführt von der IHK und dem Deutschen Industrie- und Handelstag und solche Leute. Wo ich gefragt wurde, ob ich das gerne mache. Die sind tagsüber auf der documenta gewesen, abends habe ich irgendwo was mit denen gegessen, und dann kamen ganz positive Dinge rüber. Weil die nach den Erklärungen nochmal einen ganz anderen Zugang gefunden haben, zu den Kunstwerken, zu der Art und Weise. Das fanden die alle interessant. Was mich auch gefreut hat, dann gab es Beifall. Auch von den nicht kunstaffinen Leuten. Jemand, der Industriechef ist, der ist erstmal nicht kunstaffin. Die sich dann positiv überrascht zeigten, was hier so alles passiert. Vornehmlich diese Nicht-Kunst-Werke, die nicht fassbar sind, dieser Lumbung-Gedanke, die Offenheit, das miteinander Reden. Das ist für mich die wichtigste Botschaft.
I: Ist die documenta insgesamt eher für diese Menschen gewesen?
Röse: Also ja. Das ist jetzt meine zehnte bewusste documenta. Es ist so, dass das die am wenigsten kunstaffine documenta war. Die Damen mit den Prada-Schläppchen und der Biennale-Tüte unterm Arm waren nicht hier. Und es ist eine nicht-akademische documenta gewesen. Wir hatten viele Leute dabei, die nicht akademisch vorgebildet waren, die aus Gegenden kommen, die sich mit Kunst sonst nicht beschäftigen. Das sehen wir hier im Publikum, die jünger waren. Das hat Spaß gemacht. Die vollkommen unvoreingenommen an diese Dinge herangegangen sind. Und ganz überrascht waren, was es da an bunten Farben gibt. Dieser freie Zugang, das hat mir sehr viel Spaß gegeben.

I: Was wären so abschließend Lehren aus der documenta fifteen für die folgenden?
Röse: Das muss sich ja immer neu erfinden, da sind wir noch viel zu früh. Ich glaube, da werden wir in eineinhalb Jahren drüber reden. Bis sich das gelegt hat. Das kenne ich auch von anderen Prozessen, das braucht immer eineinhalb Jahre, bis sich so eine documenta beruhigt. Das ist ja ein wiederkehrender Prozess. In Summe wird diese documenta später erfolgreicher dastehen, als sie das bis jetzt tut. Da bin ich ganz sicher. Das ist ja bei der letzten documenta auch nicht anders. Von der ich sehr begeistert war, vor allem von der Geschichte in Athen. Das wird hier ähnlich sein. Dass man Verantwortlichkeiten haben muss, das ist auch eine Lehre daraus. Das mit dem Kollektiv ist ein interessanter Ansatz, aber ich bin Segler und weiß: Einer muss das Sagen haben. Und ich weiß: Lieber eine Fehlentscheidung treffen als gar keine. Und sich konspirativ zurückziehen … das hat so etwas Sozialarbeiterisches. Und das ist so wie Teamarbeit: „Toll, ein andere macht es“, das wäre die Abkürzung dafür. Nicht, dass das die ruangrupas von vornherein so gedacht haben, aber für Dinge, die passieren müssen in der heutigen Gesellschaft ist es vielleicht nicht der richtige Ansatz. Das war ein Experiment, was man gelten lassen sollte, nichts hat ja Anspruch auf Richtigkeit. Jetzt kann man gucken, wie so etwas in Zukunft sein kann. Gut finde ich, dass der Marktzugang für alle Künstler gleich war. Über die Lumbung-Gallery. Es konnte also kein berühmter Galerist hingehen und Dinge ersteigern und den Preis hochtreiben, es wurde alles zentral über die Lumbung-Gallery gemacht. Das finde ich einen tollen Prozess, das halten die auch heute noch durch. Dass ein berühmter Galerist, den viele kennen, zu mir kam: „Hier, das sind Hütchenspieler, man kann mit denen gar nicht verhandeln.“ Das fand ich sehr exemplarisch. So dass jetzt nicht plötzlich einer aus der Gruppe herauskommen kann und sagen kann: „Ich bin jetzt ein Star, weil ich mit dieser Galerie arbeite.“ Ich glaube, das ist ein interessanter Ansatz. Es ist auch der solitäre Ansatz der documenta. Hoffentlich bleibt das immer so. Denn viele sind aus der documenta rausgekommen wie Phönix aus der Asche. Das wird hier glaube ich nicht so sein können. Was es da so an Nachhaltigkeit gibt, weiß ich nicht. Allein die intellektuellen Dinge, die passieren, die in Gang gesetzt worden sind. Ein anderer Umgang nochmal mit Antisemitismus. Da hat Hans Eichel gestern nochmal was Tolles gesagt: Wir als Deutsche sollten nicht den Finger heben und anderen Ländern erzählen, was Antisemitismus ist. Das fand ich einen sehr wichtigen Satz. Das ist dann schon so lehrerhaft, und das ziemt sich nicht für uns. Das ist ja eigentlich schon fast kolonial. Ich denke, das wird eine gute Folge sein, ein anderer Umgang. Für die Stadt Kassel befürchte ich das Schlimmste. Die Gesellschaft teilt sich gerade, in die Leute, die für diese documenta waren, und die, die gegen diese documenta waren. Die sich gegenseitig beschimpft haben … es gab heftige Beschimpfungen und Beleidigungen. Als ich mein erstes Zeitungsinterview gegeben habe, wurde ich schon morgens als antisemitisch beschimpft. Man wird mit Dingen konfrontiert, die ich vorher in meinem Leben nicht für möglich gehalten hätte. Zum Glück bin ich da nicht in Position gegangen, um mich zu verteidigen. Aber manch anderer, der in Not ist, macht das dann und begeht dann natürlich auch Fehler.
I: Warum sind die Wogen so hochgeschlagen?
Röse: Wenn ich das wüsste. Es ist ein soziologisches Problem, glaube ich, bedingt durch zweieinhalb Jahre Pandemie. Viele Leute konnten in diesen zweieinhalb Jahren nicht mehr so richtig austauschen. Man hat sich nicht mehr getroffen, man war abends nirgends mehr eingeladen, man war nicht mehr auf Events. Jetzt konnte man mal wieder so richtig raus, und man konnte mit Mini-Sätzen richtig was lostreten. Das ist eher etwas Psycho-Soziologisches. Ich befürchte, dass das ein Ansatz sein kann, neben diesen politischen Dingen. Aber da habe ich zu wenig Ahnung, da bin ich zu wenig politisch, als dass ich das bewerten möchte. Ich bin nur selbst froh, dass ich nicht in der Politik gelandet bin.
I: Über zwei, drei Interviews bin ich darauf gekommen, dass es ja fast ein Brauch ist, etwas von der documenta in Kassel zu behalten. Was würden Sie von dieser documenta ankaufen?
Röse: Ich selber bin dabei, etwas zu kaufen. Da hoffe ich, dass ich das bekomme. Jetzt für die Stadt Kassel, was die Stadt kaufen könnte – da sind wenige Dinge dabei, bei denen man sagen könnte, die haben als Objekt Bestand, das muss man vielleicht diesmal lernen. Ich würde sagen, wenn es da einen Etat gibt, ich habe was gehört von 600.000 Euro, dann wäre es vielleicht sinnvoll, den in etwas hineinzustecken, wo ein paar Gedanken, die jetzt hier Eingang gefunden haben, weitergeführt würden. Die Objekte sind jetzt nicht so, dass man die in der Öffentlichkeit ausstellen könnte, oder wenn da Regen draufkommt, sind die weg. Und die Sachen, von denen geredet wurde, die sind aus Balsaholz oder aus Bambusstämmen, das ist wirklich nur temporär, ganz klar. Aber dass man versucht, die Gedanken, die sich so langsam eingefunden haben hier, dass man versucht, das festzusetzen, das fände ich wichtig. Das ist dann eher eine intellektuelle Diskussion als ein einzelnes Objekt. Diese documenta, da geht es ja nicht mehr nur um das schöne Bild, die schöne Marmorbüste. Und da müssen wir uns Gedanken machen, dass wir da vielleicht etwas finden, was für die gesamte Stadtkultur nachhaltig ist. Und da gibt es ja viele Möglichkeiten. Wir haben die Gegenden im Kasseler Osten, die nochmal eine neue Wertschätzung erfuhren, was ich ganz toll finde. Aus diesem Kasseler Osten waren auch viele Leute hier, die ich noch nie hier gesehen habe. Da haben wir viel Chancen, das weiterzuführen. Einfach, dass man diesen Menschen, die dort leben, auch Wertschätzung entgegenbringt. Ich glaube, das ist einer der wichtigsten Gedanken.

Was übrigbleibt, dass zum Beispiel die ruangrupas die Listen der teilnehmenden Künstler nicht an eine bekannte Kunstzeitung gegeben haben, sondern an die Zeitung der Obdachlosen, an „Asphalt“. Ich beobachte, wie die Leute, die diese Zeitung verkaufen, die gibt es ja in ganz Deutschland, denen wird jetzt eine ganz andere Wertschätzung entgegengebracht. In der Art: „Ach toll, ich gebe Ihnen mal zwei Euro, das ist ja toll, was sie machen.“ Die kommen auf Augenhöhe in Dialog mit den Leuten. Das haben die früher nie erlebt. Das ist eine Sache, die mir ein bisschen Gänsehaut macht, positiv. Wo ich denke: Da wäre ein Schlüssel, wo man weitergehen könnte. Nicht, dass man jetzt mit der Gießkanne in soziale Projekte Geld reinschüttet. Ich glaube nicht, dass das der richtige Angang ist. Wir brauchen einen Überbau, ein oder zwei Ideen. Und wenn da die Stadtgesellschaft, die Stadt Kassel sagen würde: „Wir einigen uns darauf.“ – dann kommen da vielleicht noch Spenden. Und nicht, dass das im Sand verläuft, sondern dass da konkret was passiert, ohne dass irgendwelche ehrenamtliche Vorstände sich dann in Eitelkeit hineintun, sondern wirklich mit Bezug zu den Leuten, an die das gehen sollte. Da wären für mich die Menschen im Mittelpunkt, die Wertschätzung, was mit diesem Lumbung-Gedanken sehr viel zu tun hat. Also, andere Gegenden, weil der Kasseler Westen, diese Gegenden, die sind alle – positiv – mit Kunst sowieso voll, die brauchen das nicht.

Und Lumbung hat mich selbst – ich kann immer nur über meine persönlichen Erfahrungen reden. Und meine Lumbung-Erfahrung war, dass ich mit meinem fast schon größten Geschäftsfeind, der Buchhandlung König, der größte Kunstbuchhändler der Welt, dass ich mit dem inzwischen in fast schon freundschaftlicher Beziehung stehe. Dass wir den Laden hier [im ruruHaus] gemeinsam betreiben. Das ist richtig viel. Das ist das tollste, was die documenta geschafft hat. Wir haben uns bekämpft, das ging schon sehr an die Substanz. Und wir sind jetzt fast Freunde geworden, die schicken mir Bilder aus dem Urlaub, und wir laden uns gemeinsam zum Grillen ein. Und haben vielleicht gemeinsame Projekte für die Zukunft. Das ist wundervoll. Und das sehe ich auch in manchen Betrieben, in manchen Verlagen: Dass man sagt: Nicht der größere schluckt den kleinen, sondern der kleine wird genauso gewertschätzt und bringt das, was er kann, mit ein. Denn wir haben andere Qualitäten als König, wir sind ein Hundertstel so groß, oder so, aber bestimmte Qualitäten haben wir auch, und das hat er auch anerkannt. Die haben natürlich eine Professionalität, die wir nicht haben. Nicht dass man alles gleich negativ bewertet, was schwächer oder kleiner ist. Dem eine Chance zu geben, das ist gut.
