Vor dem Fridericianum
I: Was haben Sie bis jetzt gesehen und was ist hängengeblieben von der documenta?
M: Ich habe seit der documenta 1 bisher jede documenta gesehen, und ich kann nur sagen, dass das mit Abstand ein Absturz ist. Das ist genauso, als wenn man auf eine Automobilausstellung geht und dort Kakteen gezeigt werden. Die Enttäuschung ist groß. Ich bin Kunstlehrer, ich habe an einem Gymnasium dreißig Jahre Kunst unterrichtet. Ich habe immer versucht, das Bild der documenta als etwas ganz Besonderes im Bewusstsein meiner ungefähr 10.000 Schüler zu verankern. Ich wollte, dass die, die hier in Kassel Abitur machen, auch was zur documenta sagen. Und ich muss sagen, dass ich dadurch, dass ich mittlerweile pensioniert bin, diesen Job nicht mehr machen muss. Zu dieser documenta fällt mir außer einer tiefen Frustration nicht mehr ein. Ich kann dazu sagen, ich habe Kunst studiert hier in Kassel, ich habe Arnold Bode noch kennengelernt, als Grundschullehrer, weiß also von dem Esprit und dem Elan, mit dem er dieses Forum auf den Weg gebracht hat. Ich bin als fassungslos, wie diese Sache an die Wand gefahren wurde. Es ist eine aus meiner Sicht sozio-ethnologische, sozialpädagogische Veranstaltung unter Auslassung von jeglicher Art von Kunst. Und die vielen Leute, die hier strömen, kommen ja nicht wegen dieser documenta, sondern die kommen im Grunde wegen des lange aufgebauten Images der documenta als Plattform für moderne Kunst. So gesehen spricht aus jedem Halbsatz meine Frustration über das, was sich hier ereignet.
I: Wo sehen Sie da vor allem die Verantwortung?
M: Ich sehe die Verantwortung, auch schon bei der letzten documenta, bei der Findungskommission, die offenbar unter Abwesenheit jeglicher Form von Kriterien, irgendwelche innovativen oder scheininnovativen Ansätze, die dort vorgestellt werden, hochgejuxt, Hype, würde man sagen … es ist ja das Grundproblem, dass es keine Definition von Kunst mehr gibt. Ich habe ja bei der documenta 5 als Assistent gearbeitet. Ich habe also bei der documenta 5, die sich ja im Nachhinein als besonders richtungsweisende herausgestellt hat, Gelegenheit gehabt, jeden Tag mit Joseph Beuys und anderen Artisten im Gespräch gewesen zu sein. Vor dem Hintergrund all dieser Erfahrungen erklärt sich meine Fassungslosigkeit angesichts dieser Präsentation. Das kann ich dazu sagen, aus Betroffenheit, aus Irritation. Verzweiflung wäre zu viel, aber … ich hatte schon bei der letzten documenta das Gefühl, eigentlich kann jetzt nichts mehr kommen. Diese Entordnung, die damals schon stattfand, war ja eine … Wenn Sie sich hier umschauen, wie Werke dieser neuen documenta mit anderen Werken in Kontakt geraten, dann ist das für mich auch eine Sprache: zum Beispiel der Erdkilometer von Richard Serra [Walter De Maria] sozusagen überbaut und damit ignoriert wird. Dass die documenta-Halle, die aus genau diesem Grund gebaut worden ist, mit einer Favela sozusagen vorweg gebaut wird, und damit quasi negiert wird, oder in Frage gestellt. Das im Haus Rucker die Bodenbeleuchtung überdeckt worden ist. Das also diesem Werk seine Aura, seine Strahlkraft genommen wird. Also alles, was je in Kassel hingestellt wurde. Auch diese Bemalung an den Säulen – Wenn man die documenta lange genug kennt, dann weiß man, dass eine Dosis Provokation seit Generationen dazugehört, und so gesehen kann ich das auch so hinnehmen. Aber jetzt gibt auch dieser Kontext ein Bild, das mit dem wie auch immer gearteten westlichen Kunstbegriff einfach radikal gebrochen wird, also eine Antithese sozusagen. Ich hatte ja schon die Vorstellung, dass das Standbild von dem Friedrich, der für das Fridericianum hier verantwortlich ist, dass das noch irgendwie im Sinne der Diskussion über die Ausbeutung von Südafrika oder so was hier auch irgendwie bearbeitet wird, aber das hat irgendwie nicht funktioniert. Sie sehen, ich bin sehr skeptisch und sehr betroffen, dass sich so etwas ereignen konnte. Und wenn man, wie ich beschrieben habe, die Hintergründe so ein bisschen kennt oder die Leute, die hier zur Zeit als Agierende zugange waren – hier ist ja Kunstgeschichte geschrieben worden, das darf man nicht vergessen. Ich erinnere mich noch an die documenta 5 oder die documenta 4, da haben Joseph Beuys und Andy Warhol da drüben im Café Kaffee getrunken. Das war die kreative Atmosphäre einer Auseinandersetzung. Und da ich bei der documenta 5 hundert Tage hinter die Kulissen schauen durfte, habe ich ja mitbekommen, wie die Protagonisten der Moderne hier zugange waren. Die sich aneinander gerieben haben, hier Dinge auf den Punkt gebracht haben und sich auch bemüht haben, sie an die Bürger zu bringen. Und dieser vornehmlich politische Inhalt … also lässt jegliche Art von ästhetischer Gestaltung vermissen. Auch die Kuratoren sind augenscheinlich in ihrer Arbeit völlig überfordert gewesen mit diesem Ding. Das sieht man an vielen Aspekten. Das sieht man an den geradezu jeden Betrachter verachtenden Beschriftungen bei den Kunstwerken.
I: Auf welche Weise verachtend?
M: Diese Art der Scheinerläuterung zeigt im Grunde, dass es denen gar nicht darum geht, die Sache zu vermitteln oder rüberzubringen. Das ist so gemacht, als wenn Schulen Jahresausstellungen machen. Völlig unambitioniert. Und wenn Sie dann die Gelegenheit nutzen, diesen sogenannten Führungen beizuwohnen – da fällt Ihnen nichts mehr zu ein. Da werden Zettelchen verteilt an die Umstehenden. Und da stehen Leute, die ich teilweise sogar kenne, auch hier von der Kasseler Kulturszene, ausgewiesene Leute, ja? Die werden dann mit Zettelchen konfrontiert, was es da an Humoristischem gibt, so Anleitungen, wie man sie aus Spielchen kennt. Das ist einfach nur peinlich. Die Leute, die sich auf diese Sache einlassen, und sich von solchen Unkompetenten da durchführen lassen. Die Sprachlosigkeit, die wir auch in der Vermittlung haben.
I: Es geht Ihnen also nicht um das Politische, sondern um die Gestaltungshöhe, um das mal auf den Punkt zu bringen.
M: Ja, das könnte man sagen. Und diese ganze Diskussion um Antisemitismus, die überlagert das in einer Weise, das ist elend. Ich habe das zu Anfang schon gesagt: Ich finde, diese Findungskommission hat schon zum zweiten Mal wirklich gravierend versagt in ihrer Positionierung. Man darf ja nicht vergessen, dass die ja als Museumsdirektoren, als Biennale-Kuratoren, Kunstwissenschaftler, Kunsthistoriker, vom Fach sind, die müssen ja immer wieder einen neuen Trend herauskitzeln, um sich gegeneinander auch in ihrer Progressivität zu positionieren. Eine psychodynamische Geschichte, die da läuft, hinter verschlossenen Türen. Dazu kommt, dass die Personen, die dafür Verantwortung tragen – also der Christian Geselle, der Oberbürgermeister, der zerreibt sich natürlich in dieser Konstellation, die er gar nicht mehr überblickt, da da Formen der Selbstdarstellung und des Sich-selbst-Inszenierens eine ganz eigene Psychodynamik entwickeln. Sie sehen, dass ich schon versuche, dass auf einer Metaebene zuzuordnen, einzuordnen – es wird aber nicht besser. Man kann es besser verdauen für sich selbst, aber das war es dann auch. Mit Freunden zusammen, die ähnliche Biographien haben, wie ich schon gefragt: Was soll da jetzt noch kommen? Es war ja schon grenzwertig genug, was der Szymczyk da gemacht hat. Und diese Frage ist natürlich jetzt erst recht wieder da. Und all die Leute, die hier reinrennen, sind ein weiteres Beispiel für die bewusste Ignorierung der Geschichte der documenta. Das Fridericianum ist immer der zentrale Ort gewesen. Der ist jetzt umfunktioniert worden zu einem Kindergarten, zu einer Werkstatt. Deutlicher kann man da eigentlich gar nicht mehr die documenta als Ausstellungsort ablehnen. So dass Leute, die waren wie ich sechs, sieben Mal auf documenta-Veranstaltungen, die haben gesagt: Es ist eine Zumutung. Die waren sowas von frustriert, das habe ich noch nie gesehen. Dass man Dinge nicht versteht, das gehört ja zu der modernen Kunst dazu, das gehört ja zur Sache dazu. Das sind ja Objekte zum geistigen Gebrauch. Wenn man dazu in der Lage ist, davon geistigen Gebrauch zu machen, dann ist es eventuell ein Kunstwerk, wenn es diese ästhetische Form oder Beschaffenheit hat. Das ist meine Position. Und statt dieser ästhetischen Form geht es nur noch um den Inhalt, den politischen Kontext, das Postkoloniale, alle Probleme dieser Welt werden herangenommen. Und dann diese dogmatische Inszenierung dieser Kuratorengruppe. Mir fallen mehrere Künstler ein, diesseits des Äquators, die nicht in einem Kollektiv arbeiten, die dennoch relevante Aussagen über diese Welt zu machen haben. Zum Beispiel so ein Banksy – der hat in Palästina, an dieser elenden Mauer, hat er seine Sachen positioniert. Genauer kann man das doch gar nicht ins Ziel führen. Der ist eben kein Kollektiv, deswegen ist er nicht hier. Das ist doch total verbohrt. Es gibt hier sicherlich Leute, die hier total fasziniert sind von dem offenen Angebot, das in jede denkbare Richtung ausgedeutet werden kann.