Lumbung calling: ein Treffen mit ruangrupa
Montagvormittag, das Treffen im ruruHaus mit Reza und Andan ist seit einiger Zeit abgesprochen. Der Countdown läuft.
11:00 Uhr, ich erhalte die Nachricht, dass ein Treffen wegen wichtiger Termine erst am Nachmittag möglich ist.
Zwischenspiel, ich beobachte das quirlige Treiben im ruruHaus, viel Leben, lockere Atmosphäre im Kasseler „Wohnzimmer“. Urbanität wie aus dem Bilderbuch!
15:00 Uhr, tatsächlich – zuerst kommt Reza und dann etwas später auch Andan. Wir hatten uns vor einigen Wochen schon einmal in einer größeren Gruppe getroffen, daher zunächst die Frage „Wie geht es euch?“ Wie aus der Pistole geschossen antwortet Andan „Müde, aber glücklich!“
Man merkt es, beide vermitteln einen entspannten Eindruck, und doch ist ihre Aufmerksamkeit nicht wirklich auf mich konzentriert. Sie wirken etwas zerfahren.
Da hilft auch nicht, dass ständig Personen in den Raum kommen, die entweder auf Reza oder Andan zugehen und sie herzlich, meist mit Umarmung, begrüßen.
Mir werden diese „Freund*innen“ jeweils vorgestellt, ein Künstler aus Japan, eine Studentin aus Israel, eine aus Frankreich, ein weiterer Künstler, ein Mitarbeiter der documenta usw.
Es zeigt, wie vernetzt beide sind und wie sie sich auf jede Begrüßung konzentrieren und sie genießen – nur unserem Gespräch tut es nicht so gut, es will oder kann nicht so richtig in Gang kommen. Also klären wir erst einmal die Verkehrsformen: Reza lässt sich mit Vornamen anreden, er selbst spricht aber Andan mit dessen Nachnamen an. Das sei nur möglich, weil man lange miteinander und intensiv vertraut sei. Nun kenne ich Andan nicht wirklich so intensiv und schon gar nicht lange, aber so sagt er, ich solle ihn auch mit Andan anreden. Das Ganze wird mir nicht so richtig klar, und trotzdem frage ich, ob sie das deutsche „Du“ kennen. Ja natürlich, antworten sie, sie sind ja seit 2019 in Kassel. Und ich erkläre, „Walter“ sei mein Name. Etwas muss schiefgelaufen sein, da man mir immer noch unter „Herr Grosse“ schreibt.
Ehe wir dann tiefer ins Gespräch kommen, greift einer der beiden in seinen Rucksack und übergibt mir ein indonesisches Batik-Shirt. Welch freundliche Geste, ich kenne diese Shirts von einer früheren Reise nach Indonesien. Freue mich!
Wir beginnen „Lumbung“ zu diskutieren, und ein zentraler Aspekt dreht sich um die Frage nach hierarchischer Organisation, und wer trägt im Kollektiv Verantwortung. Man arbeite ohne Hierarchien – alle sind gleich. Gut! Aber wer übernimmt dann welche Verantwortung? Meine Erläuterung, dass ich mir funktionierende Organisationen, insbesondere in der Wirtschaft, ohne Hierarchie nicht vorstellen kann und es eben auch klar geregelte Verantwortungen geben müsse, wird offensichtlich zustimmend zur Kenntnis genommen. Aber das sei bei ruangrupa eben anders – aber wie? Das wird mir nicht wirklich klar, und da kommen wir bei der documenta fifteen schon an einen Knackpunkt. Muss es nicht klar definierte Verantwortungen geben? Wer legt die fest? Wer übt welche verantwortlichen Schritte aus, und ist man dann beispielsweise bei der Auswahl und Beurteilung von Künstlern und Kunstwerken in der Gefahr zu oktroyieren oder gar zu zensieren?
Eine vielschichtige, interessante Unterhaltung – ohne Ergebnis. Sie lehnen jedenfalls in ihrer Arbeit eine hierarchische Ordnung ab, wie steht es dann aber mit der Verantwortung? Auch ich habe noch keine Antworten. Also, wir müssen in Kontakt bleiben …
Aber die Geschichte geht noch weiter, Ulf kommt dazu, ein documenta-Fotograf. Auch er wird herzlich begrüßt. Ulf erklärt, er sei von Beginn an dabei und in regelmäßigem Austausch mit den verschiedensten Künstlern. Er vermittelt den Eindruck „Ich lebe documenta“. Der Bericht von seinen Gesprächen mit vielen documenta-Besuchern soll mir klar machen, dass die aktuellen offiziellen Diskussionen um Antisemitismus und Postkolonialismus nichts mit der Wahrnehmung der breiten Schar von Besuchern zu tun hat. Er ist begeistert, was er alles bildlich festhalten konnte, aber es ist klar, es ist seine Schilderung und stark von seinen Interessen geprägt. Trotzdem begeistert mich sein Engagement! Super!
Ich gebe nicht auf. Wir versuchen noch eine wenig „Lumbung“ zu diskutieren, Reisscheune, Humor, Transparenz … Aber beide, Reza und Andan, haben weitere Termine. Sie sind noch voll bei der fifteen. Wir vereinbaren, dass wir unser Gespräch über die documenta hinaus fortführen wollen. Reza will auf jeden Fall zunächst in Deutschland tätig sein, aber auch Andan will nach einer Reise in die Heimat wieder in Kassel aktiv bleiben. Na, das kann doch noch spannend werden, wir werden sehen!
Auf dem Heimweg beginnt das Nachwirken, Einordnen, Reflektieren.
Ich habe außergewöhnlich freundliche Mitglieder der ruangrupa-Gruppe kennengelernt, die eine Beziehung zu Kassel aufgebaut haben. Ob sie in Deutschland und unserer Kultur wirklich angekommen sind, nein, das glaube ich nicht. In den Konflikten während der documenta fifteen ist unsere deutsche Kultur, die ich gern mit „striktem Denken“ bezeichne und die so oft keine Abweichungen nach links, rechts, oben, unten zulässt, auf Personen getroffen, die aus einem gänzlich anderen Kulturkreis kommen. Eigentlich extrem spannend, aber diese Spannung hat keine Seite in den Konfliktsituationen ausgehalten. Mir hat die heutige Begegnung viel Spaß bereitet, und sie erinnert mich an meine Beschäftigung in den vergangenen Jahren unter dem Thema „How to say NO!“ in verschiedenen Kulturkreisen. Auch dabei habe ich viele deutsche Kollegen erlebt, die unseren Umgang mit dem Thema sehr einseitig beantworten. Nein ist ein Nein, und das sagt man deutlich. Aber sorry, so tickt eben nicht die ganze Welt! Deshalb ist eine Bereitschaft, sich solchen interkulturellen, auch kontroversen Themen zu stellen, dringend notwendig. Eben gerade in der weiteren Aufarbeitung der documenta fifteen. Dazu wünsche ich mir einen toleranten und respektvollen Umgang!