Freitag – Ankommen und Spannung
Am Freitagvormittag des vorletzten Wochenendes der documenta fifteen komme ich am Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe an. Bis Sonntagnachmittag erwarten mich 51 Stunden auf und mit der documenta und ihren Besuchern. In einer Mischung aus Reporter, Beobachter und Interviewer versuche ich, ein Stimmungsbild zur documenta zu ermitteln: Wie erleben die Besucher die documenta, was hat sich verändert seit dem Sommer, als ich Anfang Juli das letzte Mal hier war?
Im zugigen Bahnhof Wilhelmshöhe suche ich nach den unverwechselbaren Plakaten der documenta, einer ersten Resonanz der Ausstellung – die ersten Indizien finde ich erst auf dem Bahnhofsvorplatz, bei den Straßenbahnen, die zum ersten documenta-Zentrum an den Friedrichsplatz führen.
Während ich mich noch zu erinnern versuche, ob die documenta in der Hitze des Hochsommers an diesem typischen Anreiseportal mit ihren Plakaten präsenter war, treffe ich in der Straßenbahn in das Stadtzentrum dann auf die ersten untrüglichen Zeichen des ungebrochenen Publikumszuspruchs: Mit jedem Halt füllt sich die Tram mit für Tagestourismus gerüsteten Menschen, um sich am Friedrichsplatz dann weitgehend zu leeren. Ich folge den Aussteigenden und sehe ihnen dabei zu, wie sie zu nahezu gleichen Teilen zum ruruHaus und zum Friedrichsplatz mit Fridericianum und documenta-Halle streben, mal mit Blick auf die documenta-Karten, mal bereits ortskundig. Vor dem Portal des Fridericianum ist am Freitagvormittag, mitten in der Arbeitszeit, bereits reges Treiben.
Auch die nächsten beiden Stationen, ruruHaus und Stadtmuseum, bestätigen den ersten Eindruck und bekräftigen die Nachrichten über die weiterhin guten Besuchszahlen der documenta: lebhafter Betrieb und gute Laune. Ein kurzes Gespräch mit dem Einlasspersonal des Stadtmuseums ergänzt den Befund: Die Stimmung der Besucher sei gut, Fragen oder Kommentare zu den Antisemitismus-Vorwürfen gebe es hier nicht.
Nach diesem ersten Herantasten und Beobachten starte ich in die Gespräche mit Besuchern der documenta – von der Außensicht in die Innensicht. Vom ersten Gespräch an zeigt sich: Die Besucher reden gern über die documenta und ihre Erlebnisse beim Besuch. Über die folgenden drei Tage wird nur zwei Mal ein Gespräch abgelehnt werden – von einem Pärchen, das am Sonntagmorgen lieber frühstücken möchte, und einer Tochter, deren Mutter wegen Sprachproblemen kein Gespräch wünscht.
Das erste Interview auf den Stufen vor dem Fridericianum scheint der guten äußeren Atmosphäre zu widersprechen: Die beiden Gesprächspartner sehen Antisemitismus in Werken auf der documenta und sind enttäuscht über den Umgang damit. Letztlich wird dieses Gespräch an diesem Wochenende aber eines von nur zwei Interviews bleiben, in dem die Antisemitismusvorwürfe geteilt werden.
Ansonsten ist der Freitag auf der documenta wörtlich von eitel Sonnenschein geprägt, so dass sich viele gut gelaunt im Freien aufhalten, zum Beispiel im immer fast vollständig besetzten Bistro unterhalb der documenta-Halle.
Aber auch in den Ausstellungsräumen herrscht reges Leben, auch eine in der documenta-Halle stattfindende Präsentation ist gut besucht.
Insgesamt pendeln die Stimmen des ersten Tages zwischen Inspiration durch ungewohnte Sichtweisen, Interesse am anderen, Wohlwollen für den neuen Ansatz von ruangrupa, gemischt mit positiver Überforderung durch die Fülle einerseits und Kritik an zu wenig „Kunst“ von „Künstlern“ gegenüber dem Primat politischer Haltungen, Dilettantismus und der profanen fremden Lebenswelten andererseits.
Samstag – Kaleidoskop
Der Samstag wird ein randvoller Tag inmitten des vorletzten documenta-Wochenendes. Und genau so beginnt er: Ich gehe zum allmorgendlich stattfindenden Kick Start-Interview in das ruruHaus. Das „Wohnzimmer“ ist für dieses regelmäßige Gesprächsformat der documenta randvoll mit gutgelaunten Interessierten. Als das Interview mit einer Viertelstunde Verspätung ohne Nennung eines Grundes abgesagt wird, zerstreut sich die Menge ohne Murren – schon Spuren einer geänderten, weniger bürokratischen Lebensweise oder einfach nur Kultururlaubsentspanntheit?
Die ersten Gesprächspartner finde ich auch heute rund um den Friedrichsplatz. Schon am zweiten Tag verdichtet sich das Bild zu ersten Mustern, Mischungen und Nuancen zwischen wohlwollendem Interesse, sich gerne von der Menge überfordern lassen und Enttäuschung über zu wenig „Kunst“.
Auf der Suche nach Ergänzungen und Ausdifferenzierungen der Bestandsaufnahme mache ich mich auf den Weg in das Subzentrum Bettenhausen. Schon am Fridericianum gab es eine lange Schlange, aber hier wird die Anziehungskraft der documenta erst richtig deutlich: Das „Hauptquartier“ von Taring Padi im Hallenbad Ost wird geradezu überrannt, wie das Fridericianum – und auf dem nahegelegenen Hübner-Gelände warten geduldige Besucher.
Da ich die Kunst schon kenne, verzichte ich auf die Wartezeit – nach Auskunft eines Großvaters mit dem Enkelkind seiner in der Schlange wartenden Tochter am einzigen Kaffeestand zwanzig bis dreißig Minuten. Stattdessen führe ich weitere Gespräche, die ein differenziertes Bild vermitteln: Anknüpfend an Taring Padi und ihre Agit-Prop-Kunst steht am Hallenbad Ost der Blick des „globalen Südens“, aber auch die Debatte um das entfernte Plakat und die Antisemitismusvorwürfe mehr im Fokus – mit den gleichen Rollenverteilungen, wie sie Tania Bruguera jüngst in ihrem Interview in der Monopol aufgezeigt hat: Eine deutsche Gesprächspartnerin ist irritiert von der Schroffheit der Bildsprache und hat Verständnis für die vehementen Reaktionen, zwei Besucherinnen aus Kolumbien kritisieren die eingeengte Sichtweise und Kritik deutlich und solidarisieren sich mit dem offenen Brief der künstlerischen Leitung als Reaktion auf die aktuelle Empfehlung der Expertenkommission.
Auf dem Weg in das Stadtzentrum zurück messe ich die Stimmung mit einem etwas anderen Barometer: Currywurst essen im weniger schicken Teil der Kasseler Einkaufsmeile. Hier gibt es die freundlich-geschäftigen Bildungsbürger aus den Schlangen und Kunstorten kaum mehr – sie pendeln eher mit der Straßenbahn zwischen den Kunstorten und ökologisch korrekten Essensständen. Dafür viele Menschen mit sichtbar anderen ethnischen Hintergründen.
In diesem Umfeld hole ich mir dann auch den zweiten Korb des Wochenendes: Mutter und Tochter, die ich für ein Interview gewinnen will, sprechen beide Deutsch mit slawischem Akzent, die Mutter noch weniger als ihre Tochter. Nachdem die Tochter meine Fragen doch immer übersetzen muss, wollen sie doch nicht mit mir sprechen. Ich erfahre nur noch, dass die Tochter die documenta besucht hatte, die Mutter nicht.
Der Forschungstag endet mit einer schönen Form wirklicher Integration: Salsa-Unterricht und Tanz im ruruHaus. Trotz der nüchternen Architektur beste, vitale Stimmung, unterschiedliche Altersgruppen – über die Alltagskultur einer Alltagskultur im geteilten urbanen Raum, wie aus dem Bilderbuch.
Abends geht es dann mit dem Bus zum Airbnb in Lohfelden. In diesem Bus sind keine Menschen mehr, die ich am bisherigen Tag an den Standorten der documenta getroffen oder am nächsten Morgen mit Cappuccino am Nebentisch erwartet hätte. Der Rhythmus des Vororts: sonntags nur alle halbe Stunde.
Sonntag – Ausklang und Abreise
Am Sonntagmorgen geht es für das letzte Gespräche noch einmal zurück in das ruruHaus. Draußen regnet es, deswegen drinnen. So kann ich nicht nur einige letzte Interviews führen, sondern auch am diesmal stattfindenden Kick Start-Interview teilnehmen.
Als wäre es mit meiner Recherche abgestimmt, sprechen drei junge Menschen aus dem Führungsprogramm über ihre Vermittlungsarbeit. Das Gespräch zwischen ihnen wirkt wie ein Spiegel der Besucher-Statements in meinen bisher geführten Interviews: Es scheint der gemeinsame Nenner ihrer mit viel Begeisterung und Freude vorgestellten Ansätze, die Erwartungen der Besucher an den Besuch zu enttäuschen und ein Gefühl des Unwohlseins („Discomforts“) zu erzeugen. Unterschiedlich ist die Bereitschaft, dieses Gefühl aufzufangen – während ein Gesprächspartner ausdrücklich nicht versucht, die Verunsicherung aufzulösen, berichtet eine andere konkret, wie sie darauf hinwirkt, die Besucher einzubinden und die Eindrücke in der Ausstellung mit ihren Lebenswelten zu verknüpfen.
Im Publikum, wie in den meisten Interviews, scheint die eigene Verunsicherung jedenfalls tatsächlich in der Regel als Inspiration aufgenommen zu werden: Das Echo ist von wohlwollender Anteilnahme bestimmt, bis auf eine wütende Stimme, die sich über die Negativität des Besucherbildes beschwert.
Ein temporäres Resümee
Am Ende des facettenreichen ersten Forschungswochenendes stellt sich bereits ein intensives Stimmungsbild zwischen der documenta und ihren Besuchern dar: Die von der künstlerischen Leitung angestrebte Herausforderung des Künstler- und Kunstverständnisses sowie der Erwartungen daran, was eine Kunstausstellung ist, wird verstanden und angenommen – dass dies sowohl positiv wie negativ bewertet wird, ist realistisch betrachtet wenig überraschend.
Gemischte Gefühle verbinden sich durchgehend mit einer Neugier auf die anderen Perspektiven. Auch die von Kunstverständnis geprägten Gegenpositionen, die kuratorischen Dissonanzen, werden deutlich artikuliert.
Dafür scheint die von der künstlerischen Leitung beschriebene Beteiligung am Lumbung zu stark auf die Kollaboration unter den Künstlern und Kollektiven fokussiert gewesen zu sein. Es wäre interessant, noch einige ausgewählte Interviews mit Akteuren aus Kasseler Kooperationspartnern – Vereinen und ähnlichen – zu führen, um den Effekten der Berührung mit diesen Prozessen nachzuspüren.